Kritik zu Vertraute Fremde

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Was fängt man mit der verlorenen Zeit an, wenn man sie auf einmal zurückgewonnen hat? In Sam Garbarskis Mangaverfilmung erlebt ein Erwachsener noch einmal die entscheidende Episode seiner Kindheit

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Das Ende des Sommers markiert in Jugendfilmen meist einen unwiderruflichen Wendepunkt. Bis dahin muss eine Initiation absolviert werden, der Abschied von der Kindheit vollzogen sein. Danach ist die bange Ahnung, gereift zu sein, eine unabweisliche Gewissheit.

In Jiro Taniguchis grafischem Roman »Vertraute Fremde« verlässt am letzten Ferientag ein Vater seine Familie ohne ein Wort des Abschieds oder der Erklärung. Seinen damals 14-jährigen Sohn sucht dieses Trauma noch Jahrzehnte später heim. Als er versehentlich in einen falschen Zug steigt, der ihn in seine Geburtsstadt bringt, bekommt er unverhofft die Chance, mit dem Bewusstsein des Erwachsenen in die Rolle des Teenagers zurückzukehren. Es wird ein Sommer voller Verheißungen, deren Ergebnisse er eigentlich kennt. Aber er hat vor allem ein Ziel: den Vater von seiner Entscheidung abzubringen.

Das Spätwerk des Zeichners und Szenaristen Jiro Taniguchi ist eine Wohltat im unüberschaubaren Feld der Mangas. Seine Bücher sind Refugien der Ruhe, ihr entschleunigter Erzählrhythmus ist eine leise Kampfansage an die Hektik der Moderne. Sein Strich ist meditativ, nicht dynamisch: Er versteht es, die Momente des Lebens, in denen nichts geschieht, stillstehen zu lassen.

Taniguchis Figuren sind Durchschnittsmenschen, die in ihrer gesellschaftlichen Bestimmung gefangen sind. Das ist nicht unbedingt eine ermutigende Prämisse für ihre Besitznahme durch das Kino. So ist der Held von Sam Garbarskis Verfilmung kein Architekt mit sachtem Alkoholproblem mehr, sondern ein Comiczeichner, der in einer Schaffens- und Lebenskrise steckt. Als Künstler und Familienvater gebricht es ihm an authentischer Inspiration. Pascal Greggory verleiht ihm eine Aura des Entrücktseins, eine japanisch anmutende Versunkenheit, die in der Filmmusik von Air einen hübschen Nachklang findet. Ansonsten vollzieht sich der Transfer der Geschichte in eine andere Kultur mit bezeichnenden thematischen Einbußen. Das Gefühl der Verpflichtung gegenüber der Familie ist in Japan ein anderes. Die Vorlage spielt 1963, wenige Monate bevor der Kriegsverlierer Japan der Welt als Gastgeber der Olympischen Spiele ein neues, modernes Antlitz präsentieren will. Sein Reisender findet sich in einer noch immer stark restriktiven Welt wieder, in der sittliche Überschreitungen strenger geahndet werden als im Frankreich des Jahres 1966. Hier nutzt das junge Alter Ego des Helden seinen Wissensvorsprung, um ein besserer Schüler zu werden. Und das dann doch nicht unnahbare schönste Mädchen der Schule ist selbstbewusster als ihr literarisches Vorbild.

Garbarski und sein regelmäßiger Koautor Philippe Blasband haben 60 Drehbuchfassungen durchlaufen müssen, bis sie glaubten, den Stoff im Griff zu haben. Sie werden verzweifelt gewesen sein angesichts der unendlichen erzählerischen Möglichkeiten, die er eröffnet. Manch ulkiges Dilemma entspricht ganz amerikanischem Zuschnitt – etwa Thomas' Skrupel, sich zu verlieben und damit seiner späteren Ehefrau untreu zu werden –, wenngleich sich die »Zurück in die Zukunft«-Mechanik sonst rechtschaffen in Grenzen hält. Die schönste Neuerfindung sind die erwachsenen Gesten des Trostes, zu denen Thomas fähig ist. Sein Reservoir an Einsicht macht ihn tatkräftiger, entschlossener. Er kann seinen Eltern und seiner Schwester jene Fragen stellen und Gefühle eröffnen, die er einst im normalen Lauf der Dinge versäumte. Dem jungen Léo Legrand gelingt es wunderbar, den 48-Jährigen aus seiner Figur hervorzubringen.

Ein dezentes visuelles Leitmotiv sind die zu überwindenden Barrieren, Glasscheiben und Türrahmen, die Thomas von seinen Eltern zu trennen drohen. Allerdings ist der Blick von Jeanne Lapoiries Kamera eher nostalgisch als lyrisch. Schon das Regiedebüt des ehemaligen Werbefilmers Garbarski, »Der Tango der Rashevskis«, verriet seinen Wunsch, die Identitätskrisen seiner Figuren einer behaglichen Lösung zuzuführen. Er findet kein tragfähiges Gegenstück zur Konfliktarmut der Beziehungen, die man als Leser akzeptiert: die Erkenntnis, dass alle hehre Motive hatten. Der Abschied des Vaters ist in der Vorlage viel herzzerreißender. Im Film findet er nicht am Ende des Sommers statt, sondern mittendrin.

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