Kritik zu Raum
Die Verfilmung des Bestsellers von Emma Donaghue erzählt von einer jungen Frau und ihrem kleinen Sohn, die seit Jahren gefangen gehalten werden
Die ersten Bilder von Lenny Abrahamsons »Raum« haben etwas Rätselhaftes. Eine Reihung von Detailaufnahmen, die man erst in einen größeren Zusammenhang ordnen muss. Mit zunehmender Orientierung wird klar, dass wir uns in dem titelgebenden »Raum« befinden. Hier lebt die 24-jährige Joy (Brie Larson) mit ihrem kleinen Sohn Jack (Jacob Tremblay). Es gibt eine Kochecke, ein Bett, einen Tisch, eine Toilette. Alles sieht ramponiert und schmutzig aus. Nach einer Weile begreift man, dass die beiden Gefangene sind und den Raum niemals verlassen. Joy seit ihrer Entführung durch einen Fremden vor sieben Jahren, der fünfjährige Jack seit seiner Geburt. Er ist der Sohn des Entführers, Ergebnis einer von zahllosen Vergewaltigungen. Trotzdem liebt Joy ihr Kind über alles. Deshalb ließ sie ihn auch in dem Glauben aufwachsen, der Raum sei die gesamte existierende Welt. Die Fernsehbilder? Nur ein Spiel. Und außerhalb der Wände lediglich das Weltall, als Ausschnitt sichtbar durch ein kleines Oberlicht in der Decke.
Mit sparsamen, meisterhaft eingesetzten Stilmitteln macht »Raum« diese alptraumhafte Situation in erschütternder Intensität nachfühlbar. Als Zuschauer bleibt man mit Joy und Jack in dem Verlies gefangen; man weiß weder, wo es sich befindet, noch, wohin die bestens gesicherte Zugangstür führt. Man ist gezwungen, sich vollkommen auf das klaustrophobische Lebensgefühl von Mutter und Sohn einzulassen: Auf Joys Stimmungslagen zwischen leiser Hoffnung, aufflammender Panik und tiefer Depression, aus der allein die Liebe zu ihrem Kind sie befreit. Vor allem aber auf den Blick von Jack, aus dessen Perspektive die Geschichte weitgehend erzählt wird. Dabei gelingt Regisseur Abrahamson das Kunststück, die »unschuldige« Sicht eines Kindes nachzuempfinden, ohne dem Zuschauer dessen begrenztes Verständnis aufdrängen zu wollen. Denn natürlich weiß man sehr genau, dass etwa der regelmäßig auftauchende »Old Nick« (Sean Bridgers) kein böser Zauberer ist.
Diese Identifikation bei gleichzeitigem Wissensvorsprung intensiviert das Mitgefühl, ohne dass Abrahamson je auf Reißerisches abzielen müsste. Die eigenen Affekte ergeben sich vor allem aus der emotionalen Verbundenheit mit den Gefangenen. Als Joy die Lügen nicht länger erträgt und ihrem Sohn die Wahrheit erzählt, teilen wir als Zuschauer gleichermaßen ihr tiefsitzendes Gefühl der Ausweglosigkeit wie auch Jacks Panik angesichts seines fundamental erschütterten Weltbilds. Selbst in der aufwühlendsten Sequenz des Films, einem Fluchtversuch, entsteht die kaum erträgliche Intensität weniger aus den Mechanismen des »Suspense«, sondern vor allem aus der sorgfältig etablierten Beziehung zwischen Mutter und Kind. Die Leistung der beiden Darsteller kann man dabei gar nicht hoch genug loben. Brie Larson spielt Joy mit einer Mischung aus Fragilität und furioser Entschiedenheit, ohne den Hauch von Künstelei; man spürt auch ihre persönliche Nähe zu ihrem Filmsohn Jacob Tremblay, dessen Präsenz und Sensibilität mindestens ebenso beeindruckend sind.
[Im folgenden Textabschnitt gibt es »Spoiler«!] Klugerweise interessiert sich der Film überhaupt nicht für den Täter »Old Nick«. Nach der Rettung von Joy und Jack erfahren wir lediglich, dass er gefasst wurde. Auch die Entführungssituation, inspiriert von realen Vorbildern, hat zwar stellenweise Elemente eines Thrillers, bildet aber in erster Linie den Rahmen für eine Mutter-Kind-Geschichte, die bei aller Außergewöhnlichkeit der Umstände etwas zutiefst Universelles hat.
Dabei teilt »Raum« sich in zwei Abschnitte. Die erste Hälfte zeichnet das Porträt einer Frau, die aus der Liebe zu ihrem Kind die Kraft gewinnt, einen unerträglichen Zustand auszuhalten. Darin ist der Film auch eine Studie in menschlicher Anpassungsfähigkeit: Bei Joy aus Überlebenswillen, bei Jack, weil er kein anderes Leben kennt. Für ihn ist »Raum« (er benennt Objekte ohne Adjektive, wie lebende Organismen) das ganze Universum, und seine kindliche Sicht macht aus dem Verlies eine Welt voller Möglichkeiten. Kameramann Danny Cohen gibt diesen Momenten eine sanfte Wärme, ohne zu romantisieren; er lässt »Raum« für Augenblicke fast so grenzenlos erscheinen wie die Fantasie des spielenden Kindes.
Die zweite Filmhälfte schildert den unendlich schwierigen Versuch, die neue Freiheit zu leben, ohne sich dabei zu verlieren. Die Erzählung ist hier emotional weniger intensiv, bleibt in den angerissenen Themen aber nicht weniger eindrücklich. Geschickt spiegelt der Film Motive aus der ersten Hälfte und eröffnet durch die Kontextverschiebung neue Fragestellungen. Wenn Jack das erste Mal den Raum verlässt, entspricht seine Orientierungslosigkeit dem eingangs beschriebenen Filmbeginn. Und wenn erst »Old Nick« ihn in Zeitlupe verfolgt und kurz darauf Joy in Zeitlupe auf ihren Jungen zustürzt, bekommt das identische Stilmittel eine komplett gegensätzliche Bedeutung, von der Bedrohlichkeit des Vaters zur Hingabe der Mutter. Auch sonst betont der Film weibliche Sensibilität und mütterliche Fürsorge. Sei es in Gestalt der Polizistin, die sich (in Kontrast zu ihrem Kollegen) rührend um Jack kümmert; oder sei es Joys Mutter (Joan Allen), die das Kind vorbehaltlos annimmt, während ihr Vater (William H. Macy) ihn keines Blickes würdigt.
Auch Joys depressive Schübe kehren in Freiheit unter anderen Vorzeichen zurück. Wie soll sie auf einmal wieder »Tochter« sein? Die Setzkastenidylle des Elternhauses ist ihr so fremd, wie Jack das neue Lego-Spielzeug, mit dem er so gar nichts anfangen kann. »Freiheit« erweist sich als relativer Zustand, als etwas, das es zu erlernen gilt – und das letztlich nur begreifen kann, wer um die Begrenzungen weiß. So gesehen lässt Abrahamsons Film sich mit seiner feminin-kindlichen Perspektive durchaus auch politisch lesen. »Du bist Mutter!«, beschwört Jack in einer Schlüsselszene seine niedergeschlagene Mama. Nach allem zuvor Gesehenen entfaltet dieser Satz eine ungeheure humanistische Kraft. Ganz ohne Pathos, ein großartiger Film.
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