Kritik zu Heldin

© Tobis Film

Mit jedem Handgriff könnte ein Fehler passieren, der Leben kostet: Petra Volpe zeigt die ganz normale Ausnahme-Arbeit einer Krankenschwester

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Mit dem Bus durch die nächtliche Stadt, durch einen unterirdischen Betongang, zwischen die engen Reihen der hölzernen Spinde in der Garderobe und hinein in den Gang einer chirurgischen Station im Schweizer Krankenhaus: Der Weg zum Arbeitsplatz führt die junge Krankenschwester Floria durch eine Serie von Röhren, bis zum Flur ihrer Station, von dem ausgehend sie wie eine Athletin auf der Eiskunstlaufbahn Pirouetten in die einzelnen Zimmer dreht, immer atemlos voran, immer an vielen Orten zugleich erwartet, gefordert, erfleht: Eine lange Nachtschicht im Krankenhaus ist hier auf atemlose neunzig Minuten verdichtet, man glaubt Leonie Benesch, dass sie schon beim Lesen des Drehbuchs aus der Puste kam, ganz unmittelbar überträgt sich dieses Gefühl auch auf den Zuschauer.

Nach dem »Lehrerzimmer« von Ilker Çatak und dem Newsroom in Tim Fehlbaums »September 5« ist »Heldin« innerhalb kurzer Zeit der dritte Film, in dem Leonie Benesch einen Arbeitsalltag unter Extrembedingungen absolviert. In allen drei Filmen sind ihre Figuren aus unterschiedlichen Gründen gezwungen, ihre eigenen Gefühle zu unterdrücken. Immer wieder muss sie gute Miene zu bösem Spiel machen, gegenüber Eltern, SchülerInnen, KollegInnen, ÄrztInnen und PatientInnen. Immer ist die unmittelbare Situation, die ihre volle Aufmerksamkeit fordert, wichtiger als ihre eigene Belastungsgrenze. Es ist atemraubend, zu sehen, wie Leonie Benesch unter mühsam gewahrter Contenance ein Wechselbad der Gefühle aufschimmern, unter der äußerlich beherrschten Fassade Ungeduld, aufkeimende Wut und Überforderung hochbrodeln lässt. Dieses zwischen gegensätzlichen Polen oszillierende Spiel ist in den letzten Jahren zur Spezialität von Leonie Benesch geworden und hat sie zu einer der aufregendsten Schauspielerinnen mit internationalen Perspektiven heranwachsen lassen.

Hinter jeder Tür, die sie öffnet, liegt ein anderes Schicksal, und es ist erstaunlich, wie nah sie alle dem Zuschauer kommen, obwohl sie im Grunde nur kurz skizziert sind. Jede und jeder Kranke ist gefangen in der Unbedingtheit des eigenen Leidens, der eigenen Ängste, ohne Gedanken oder Gefühle für die Schicksale direkt nebenan. Unablässig konkurrieren berechtigte Erwartungen von Patienten und Angehörigen miteinander, Forderungen nach lindernden Schmerzmitteln, nach klärenden Arztgesprächen zu erschreckenden Diagnosen, nach tröstender Vorbereitung auf eine Operation, und jeder Patient ist zugleich schutzbedürftig und eine Zumutung. 

Immer wieder muss Floria vertrösten, den alten Mann, der ahnt, dass er nicht mehr lange zu leben hat, die Angehörigen einer frisch eingelieferten Patientin, eine demente Dame, die orientierungslos nach Hause drängt. Schon nach zehn Minuten fragt man sich, wie lange das noch gut gehen kann, wann diese kompetente Frau, die ihren Beruf offenbar liebt, unter dem Druck nachgibt, die Geduld oder die Beherrschung verliert und einen Fehler macht, der tödlich sein könnte. 

Judith Kaufmann, die nach »Traumland« und »Die göttliche Ordnung« zum dritten Mal mit Petra Volpe zusammenarbeitet, vermittelt in ihrer dynamischen Kameraarbeit die geschäftige Routine der Abläufe und zugleich die atemlos drängende Hektik des Arbeitsalltags. Zusammen mit ihr haben Petra Volpe und Leonie Benesch hart daran gearbeitet, dass man glaubt, dass hier Leute am Werk sind, die all diese Handgriffe und Wege Hunderte Male am Tag absolvieren. Fast dokumentarisch mutet der Film da immer wieder an, als würde Leonie Benesch das gar nicht spielen, sondern leben. Spürbar ernst meinen es alle Beteiligten damit, hier dem nicht erst seit Corona unterbezahlten und überforderten Personal notorisch unterbesetzter Stationen eine Liebeserklärung zu machen. 

Die Statistik im Abspann liefert ernüchternde Zahlen, während überall Personalnot herrscht, steigen immer mehr Pflegekräfte in den ersten vier Jahren ihres Berufslebens aus. Dass dieser eindringliche, mitreißende Film über eine Höllenschicht in der Chirurgie dazu beitragen kann, neues Personal für den Beruf zu mobilisieren, ist kaum zu erwarten.

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