Leonie Benesch: »Ich bin die Farbe, mit der ein Gemälde gemalt wird«

Leonie Benesch in »Heldin« (2025). © Tobis Film

Leonie Benesch in »Heldin« (2025). © Tobis Film

Noch ist sie mit »September 5« im Kino. Jetzt kommt Leonie Benesch als Pflegerin in »Heldin« zur Berlinale. Wie sie lernte, Infusionen zu legen, erzählt sie Anke Sterneborg

Ihre Karriere hat früh hoch­karätig ­begonnen: mit 17 in Michael ­Hanekes »Das weiße Band«. Es folgten Rollen in »B­abylon Berlin«, »The Crown« und »Der Schwarm«. Und schließlich: der deutsche Filmpreis für ihre Performance in İlker Çataks »Das Lehrerzimmer«. Leonie Beneschs neuer Film feiert Weltpremiere als »Berlinale Special Gala« und startet Ende Februar im Kino. »Heldin«, eine deutsch-schweizerische ­Koproduktion unter der Regie von Petra ­Biondina Volpe, handelt von einem gesellschaft­lichen Notstand – der Krise in der Pflege.  Das Konzept: eine Krankenpflegerin durch ­eine Schicht auf der Krebsstation begleiten . . . 

epd Film: »Lehrerzimmer«, »September 5« und »Heldin«: Das sind drei Filme über Extreme eines Alltagsjobs. Zufall? Oder inte­ressiert Sie das besonders?

Leonie Benesch: Schon eher Zufall. Was all diese Projekte gemeinsam haben, ist, dass die Drehbücher sehr genau beobachtet sind, mit interessanten Momenten in den alltäglichen Abläufen einer Berufsgruppe.

Schauspielen bedeutet ja, dass man ganz unterschiedliche Leben und Berufe ausprobieren kann. In diesen Filmen ist das immer mit extremem Druck verbunden, der auch dazu führt, dass Ihre Figuren persönliche Gefühle unterdrücken müssen, um funktionieren zu können . . .

Interessante Beobachtung. Aber es ist ja meistens so, dass wir im professionellen Kontext unsere privaten Emotionen hintanstellen. Dass das jetzt drei Figuren sind, die wir nur bei der Arbeit sehen, habe ich mir nicht gezielt ausgesucht, sondern es war, wie gesagt, die Qualität der Drehbücher, die mich angezogen hat.

Was bei Ihrem Spiel auffällt, ist, dass es immer einen Widerspruch gibt zwischen dem, was gesagt, und dem, was gespielt wird, was ungesagt mitläuft.

Diese Widersprüche machen gute Drehbücher aus. Ein Drehbuch ist gut geschrieben, wenn eine Figur nicht nur eins ist, sondern zwei oder drei Dinge gleichzeitig, weil das menschlich ist.

Was war denn die erste Bauchgefühlreaktion auf das Drehbuch von »Heldin«?

Petra Volpe [die Regisseurin und Autorin] hatte mich gebeten, das Buch von Madeline Winter zu lesen, »Unser Beruf ist nicht das Problem: Es sind die Umstände«. Madeline Winter ist eine Pflegefachfrau, die in Berlin in einem Krankenhaus gearbeitet hat und im Buch eine konkrete Schicht beschreibt. Wenn man das gelesen hat, ist man fix und fertig. Petra wollte daraus einen Film machen, an dessen Ende man das Gefühl hat, man hat eine Schicht mitgearbeitet. Und dieses Gefühl hatte ich schon beim Lesen des Drehbuchs, ich war ordentlich außer Puste.

So geht es ja auch dem Zuschauer, ähnlich wie in »September 5« und auch in »Das Lehrerzimmer«. Obwohl ein ganzer Tag auf 90 Minuten verdichtet ist, hat man das Gefühl, es in Echtzeit zu erleben und dabei unaufhaltsam auf eine Katastrophe zuzusteuern. Ist das schon fast nicht mehr Spielen, sondern eigentlich Leben?

Das ist auf jeden Fall gespielt, ich habe ja keine dieser Qualifizierungen. Nehmen wir einen Venenzugang: Ich weiß, wie es theoretisch geht, habe es aber nie in menschlicher Haut getan. Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten war ich nach einem ziemlich verrückten Jahr sehr erschöpft – damit war die Grundvoraussetzung für die Rolle eigentlich sehr gut, weil ich selbst an meine Reserven gekommen bin. Ich hatte ein bisschen unterschätzt, wie sehr mich dieser Dreh schlauchen würde. Ich wusste schon, dass es anstrengend wird, schon weil ich immer dabei war. 

Dazu kommt die hohe Dichte an schweren Schicksalen auf einer Krebsstation, lauter Menschen, die in dieser zugespitzten Lage nur sich selbst sehen, während die Krankenschwester alle im Blick haben muss: Ist das nach dem Dreh schwer aus dem Ärmel zu schütteln, oder können Sie das gut trennen?

Mir fällt das nicht besonders schwer, das liegt auch daran, dass ich ja nicht versuche, eine gestresste Frau zu spielen. Der Stress entsteht durch die Aneinanderreihung unterschiedlicher Situationen. Für mich ist das ein herrlicher Tag bei der Arbeit. Petra und ich haben viel darüber gesprochen, dass wir eine Athletin erzählen wollen. Judith Kaufmann, unsere Kamerafrau, hat zusammen mit Beatrice Schultz, unserer Produktionsdesignerin, und Petra überlegt, dass dieser Krankenhausgang etwas von einer Eiskunstlaufbahn haben soll. Und wir sehen eine Athletin, die von einem Raum in den anderen tanzt und wirbelt und versucht, alles gleichzeitig zu jonglieren. Sie hat Freude an der Arbeit, gerät aber aufgrund der Umstände in die absolute Shit-Show einer Schicht, in der alles eskaliert. Für mich ist das eine herrliche Herausforderung. 

Was mir an dem Film so gefällt, ist, dass es Petra und Judith gelungen ist, mit jedem Öffnen einer Tür in eine andere Welt einzutreten, so dass man als ZuschauerIn das Gefühl hat, die Leute ein bisschen kennenzulernen. Trotzdem muss ich sagen, dass mich die Begegnungen mit den unterschiedlichen Figuren und ihren Schicksalen auch sehr berührt haben. Davon habe ich sicher abends auch was mit nach Hause genommen. Petra hat so tolle SchauspielerInnen für all diese vermeintlich kleinen Rollen gefunden.

Diese Kamera, die immer ganz nah an der Heldin dran ist, ist die nicht auch bedrängend? 

Nein, überhaupt nicht, Judith ist die Queen! Das ist ein wunderbares Zusammenspiel, weil ich immer darauf vertrauen kann, dass sie genau das Richtige tut und mich begleitet, meine Bewegungen antizipiert. Gleichzeitig habe ich auch ein gutes Gespür dafür, wo sie ist und was die Kamera sieht und braucht.

Erspart dieses Immer-weitergetrieben-Werden den Spielenden nicht auch, ein Bewusstsein vom eigenen Spiel zu entwickeln?

Ich glaube, es gibt wenig Tödlicheres für eine Performance, als sich des eigenen Spiels bewusst zu sein. Damit meine ich eine Form des Selbstbewusstseins, die mit einer Bewertung einhergeht. Natürlich bin ich mir meiner selbst bewusst während des Spiels. Aber es muss frei von Bewertung bleiben.

Haben Sie Tricks, mit denen Sie das vermeiden?

Nur wenn es ein schlechtes Buch ist, wird das sehr schwierig.

Schon passiert?

Ja.

Wie erarbeiten Sie den physischen Aspekt einer Rolle wie dieser, die quasi durch die Räume getrieben wird?

Mein Lieblingslehrer an der Schauspielschule in London war Daniel McGrath; er war unser Movement-Lehrer. Seine Herangehensweise ist für mich immer der Anknüpfungspunkt, wenn ich mal nicht weiterweiß. Mit ihm arbeite ich auch jetzt noch manchmal. Mit Danny verbringt man sehr viel Zeit im leeren Raum, mit Legswings oder Swings, man isoliert sozusagen Bewegungen einzelner Gliedmaßen und konzentriert sich auf einzelne Bewegungen. Er sagt immer: »Die einzige Wahrheit, die es gibt, ist die Schwerkraft.« Das liebe ich, denn am Ende des Tages sind wir nur ein Körper im Raum, der in eine Richtung strebt, alle anderen Formen der Kommunikation haben wir uns ausgedacht oder gesellschaftlich erlernt. 

Bei »Heldin« habe ich nicht mit ihm gearbeitet, weil ich wusste, was die Figur braucht. Das hatte sehr viel mit Präzision zu tun, mit einer Genauigkeit in den Bewegungen, weil Floria es sich nicht erlauben kann zu stolpern. Sehr hilfreich war, dass wir ein paar Tage vor Drehbeginn schon mit den Proben angefangen haben, ich also wusste, welche Patienten und Patientinnen in welchem Zimmer sind. Das Personal kann diese Gänge blind runterlaufen, sie wissen, wo welcher Lichtschalter, welche Schublade ist. 

Zur Vorbereitung habe ich eine Art passives Praktikum in einem Krankenhaus in Basel gemacht. Da konnte ich beobachten, wie sich die Frauen durch den Gang bewegen. Wir hatten Nadja Habicht als medizinische Beraterin; sie hat den Medikamentenschrank fotografiert, und unsere Produktionsdesi­gnerin hat es am Set dann genau so eingerichtet. Der Schlüssel zu der Figur war für mich, dass man ihr abnimmt, dass sie jeden Handgriff zehntausendmal am Tag macht. Meine Wohnung in Zürich war voll mit Spritzen, Flüssigkeiten und Schläuchen, damit ich lernen konnte, wie man die aufreißt, wie man sie zusammensteckt, wie man die Katheter anschließt. Das ist so eine Frage, die Danny immer stellt: »Wo ist die Figur zu Hause? Wo fühlt sie sich sicher?« Oder nehmen wir Marianne Gebhardt in »September 5«, als Übersetzerin fühlt sie sich sicher. Alles andere ist ein bisschen außerhalb ihrer Komfortzone. Eine Figur von der »Movement-Frage« ausgehend zu entwickeln, liegt mir sehr.

Und welche Rolle spielt da die Sprache, die ja auch Dialekt, Akzent, Fremdsprache ist?

Die Sprache in »Heldin« ist oft sehr funktional: »Gib mir das. Stell das dahin. Kannst du bitte den Schrank füllen? Bring die Dinger zum Spülen.« Dieses Vokabular wird runtergerattert. Der andere Aspekt ist eine distanzierte Freundlichkeit im Umgang mit den Patienten, sich immer wieder neu auf jemanden einstellen, ehrliche Anteilnahme an unterschiedlichen Patienten. Wer ist mein Gegenüber, was braucht der gerade? Floria kann auf das Individuum eingehen, das macht sie zu einer sehr guten Pflegerin. 

Im Zusammenhang mit Das Lehrerzimmer haben Sie gesagt, dass Sie als Gegengewicht zu den vielen gesprochenen Worten irgendwo in eine Ecke gegangen sind und getanzt haben . . .

Ich bin jemand, der das Buch sehr gut kennt, aber den Text lerne ich immer sehr frisch, und beim »Lehrerzimmer« war das ja auch viel Text. Als Aufenthaltsraum hatte ich ein leeres altes Klassenzimmer, in das ich mich zurückziehen konnte. Und da habe ich mir morgens Musik auf die Ohren gegeben und getanzt. Mich zu bewegen, hilft mir beim Textlernen, und es verhindert, dass ich ein sprechender Kopf vor einem Regal werde. Wenn man den ganzen Tag nur redet, kann es passieren, dass man aufhört, in seinem Körper zu wohnen. 

Es fällt auf, dass Sie in den vergangenen Jahren Filme und Serien gemacht haben, wie »September 5«, »Heldin«, »Das Lehrerzimmer« oder »Der Schwarm«, die mit virulenten Themen wie Mediennutzung, Krankenpflege, Schulbildung, Umweltschutz Kommentare zum Zustand der Welt und der Gesellschaft sind. Ist Spielen für Sie auch eine Form von Aktivismus?

So weit würde ich nicht gehen. Den Schauspielberuf will ich auf keinen Fall mit Aktivismus gleichstellen. Allerdings hatte ich das Glück, dass diese Stoffe in Form von guten Drehbüchern bei mir gelandet sind. Und ich wäre schön blöd gewesen, so gute Bücher nicht machen zu wollen.

Auch nicht im Sinne von etwas bewirken, Aufmerksamkeit auf einen Missstand lenken?

Natürlich ist das impliziert. Ich bin fest davon überzeugt, dass eine der fatalsten politischen Entscheidungen der letzten paar Monate die ist, 150 Millionen Kulturförderung in Berlin zu streichen. Das ist katastrophal kurzsichtig und wirklich dumm. Ich bin der festen Überzeugung, dass Kultur uns als Gesellschaft zusammenhält. Das ist kein Extra, sondern wesentlicher Teil unserer DNA als menschliche Gesellschaft. Und ich bin gern in dem Bereich tätig, nicht als Malerin, nicht als Musikerin, sondern als Schauspielerin. Ich sehe mich nicht als Malerin, sondern als die Farbe, mit der ein Gemälde gemalt wird. Wenn ich gerade die Freiheit habe, Karriereentscheidungen zu treffen, ohne Geld zu brauchen, dann ist das der ideale Zustand, in dem ich mir auch Gedanken darüber machen kann, welches Gemälde ich gern sein würde und wie ich mich dann zu dem Puzzlestück forme, das in diesem Bild gebraucht wird.

Sie scheinen aber schon einen guten Radar für die richtigen Projekte zu haben?

Ich bin der Überzeugung, dass die größte, eigentlich die einzige Macht, die ich in meinem Beruf habe, die ist, Nein zu sagen. Beziehungsweise Ja zu Projekten, bei denen ich schon beim Lesen des Drehbuchs kluge Beobachtungen oder etwas Interessantes entdecke. Man hofft ein bisschen, dass das dann als gesellschaftlich relevant gesehen wird, aber es wäre vermessen, schon beim Lesen zu denken: »Oh, das ist eine Geschichte, die der Bevölkerung unbedingt erzählt werden muss.« Obwohl es bei »Das Lehrerzimmer«, »September 5« und auch bei »Heldin« viele gute Zutaten gab, weiß man ja nie, ob es aufgeht. Als ich Heldin kürzlich das erste Mal sehen durfte, war ich wirklich sehr berührt davon, wie gut Petra diese Liebeserklärung an den Beruf der Pflegenden gelungen ist.

Es könnte ja sein, dass ein Drehbuch die Lust weckt, etwas zu bewirken. Nehmen wir »September 5«, ein Film über die Ethik des Bildermachens. Ist das eine Frage, die Sie sich als Schauspielerin stellen: »Will ich Teil dieser oder jener Bilder sein?«

Wann immer möglich, versuche ich, mir diese Gedanken zu machen. Wenn nicht gerade das Geld für meine Miete fehlt oder einer meiner Liebsten in absoluter Geldnot steckt, habe ich durchaus Projekte abgesagt.

Haben Sie das manchmal bereut?

Bisher noch nie.

Von »Das weiße Band«, den Sie mit 17 gedreht haben, bis zu »Heldin« mit 32 haben Sie eine ziemlich unfassbare Karriere hingelegt: Lässt sich so etwas planen?

Nein, und man findet in der Öffentlichkeit ja auch immer dann statt, wenn es gerade super gut läuft. Zwischen dem »Weißen Band« und diesem Trio toller Filme gab es viele Jahre, in denen es nicht gut lief. 

Dazu kommen noch die Serien wie »Babylon Berlin«, »The Crown«, »In 80 Tagen um die Welt« und »Der Schwarm« – das ist schon ein sehr langer guter Lauf mit sehr verschiedenen starken Rollen . . .

Ich habe sehr großes Glück mit meiner deutschen Agentin, Silke Rodenbach, die eine wirkliche Partnerin an meiner Seite ist, die sich schon immer getraut hat, sich mit mir zusammen gegen Geld und Ruhm zu entscheiden und für vielleicht weniger gut bezahlte, aber inhaltlich stärkere Projekte, die etwas mit mir zu tun haben. Ausschließlich auf Prestigeprojekte zu setzen, ist unmöglich und wäre ein vermessener Anspruch. Es ist überhaupt nicht schlimm, ein Projekt zuzusagen, weil man seine Miete bezahlen muss. Der Traum ist natürlich, an einen Punkt in der Karriere zu kommen, an dem man nur die Projekte zusagen kann, die man wirklich machen möchte. 

Wird Ihnen manchmal schwindlig angesichts Ihrer Erfolgsserie in den vergangenen Jahren, mit Das Lehrerzimmer sogar bis zu den Oscars, mit den großen Elogen, etwa von Christian Berkel bei der Verleihung der Lola? Wie bleibt man da geerdet?

Es ist schön, so was zu hören, aber das muss auch hier rein und da raus. Denn man ist zwei Monate lang hot shit, und dann ist es vorbei, in Hollywood noch viel mehr als hier. Wenn ich eine Rolle nicht spiele, macht es jemand anders, da muss man sich nichts vormachen. Floria hätte auch jemand anders spielen können, ebenso wie Carla Nowak in »Das Lehrerzimmer«, und sie hätten es gut gemacht. Und ich bin mir immer bewusst, dass in ein, zwei Jahren vielleicht gar keine Angebote kommen . . .

Eher unwahrscheinlich, oder?

Viele Streamer ziehen sich zurück, die Branche steckt in einer großen Krise. Filmförderungsgesetz Teil eins, okay, aber jetzt muss es weitergehen. Ich habe noch nie so viele arbeitslose Kollegen und Kolleginnen getroffen wie dieses Jahr.

Und was könnte für Sie eine Alternative sein?

Berufsmäßig? Keine Ahnung. Ich habe keinen Plan B. Ich liebe meinen Beruf!

Können Sie sich denn vorstellen, auch mal selbst Regie zu führen?

Überhaupt nicht. Das werde ich häufig gefragt und kann nur sagen: Ich habe null Ambitionen, Regisseurin zu werden.

Auffallend ist, dass es in Ihrer Filmografie fast keine Glamour-Rollen gibt, vielleicht abgesehen von der Prinzessin in »The Crown« und der Reporterin Abigail Fix Fortescue in »In 80 Tagen um die Welt«. Hätten Sie Lust auf so eine Verkleidungs-Glamour-Rolle?

Prinzessinnenrollen sind wahrscheinlich auch historisch gesehen oft die langweiligsten, abgesehen von meisterhaften Filmen wie »Corsage« von Marie Kreutzer. Ich war schon früher eher Ronja Räubertochter als Prinzessin.

Sie wussten schon mit elf, dass Sie Schauspielerin werden wollten. Wie kam das?

Ich war in einem Kinderzirkus, der für mich immer ein Wohlfühlort war, in dem es auch immer eine Geschichte gab, die durch die artistischen Nummern führt. Als achtjähriges Mädchen war ich vollkommen verzaubert vom Zirkus, mit neun durfte ich dann selbst mitmachen und gleich als jüngstes Mitglied Teil der Seiltänzergruppe sein. Das war meine erste Erfahrung mit einer Aufführung vor Publikum, und ich habe sofort gespürt, dass mir das liegt.

Sie haben sich früh fürs Making-of von Filmen interessiert, richtig?

Ich wollte wissen, wie das gemacht wird, und habe mehr Zeit und Aufmerksamkeit auf das behind the scenes verwendet als auf den Film selbst. Das war immer Teil meiner Faszination für Film und Fernsehen.

Sie sind zu Hause ohne Fernseher aufgewachsen. Ist das eine gute Voraussetzung für den Schauspielberuf?

Für mich auf jeden Fall die beste, denn wenn ich dann mal etwas gesehen habe, hatte ich ein gutes Gespür dafür, wie gut oder schlecht die Performances sind. Je gewohnter man etwas konsumiert, desto mehr verliert man die Sensibilität dafür, was gutes Spiel ist, glaube ich. Schon als Kind dachte ich oft, ich glaube der Frau, dem Mann kein Wort. Oder es hat mich ganz stark getroffen und ich war tief berührt.

Und was haben Ihre Eltern in diesem filmfernen Haushalt zu Ihrem Berufswunsch gesagt?

Vor allem mein Vater hat immer gesagt: »Wenn du dir im Klaren darüber bist, was du möchtest, dann können wir versuchen, Lösungen dafür zu finden.« Ich glaube, ohne meinen Vater wäre ich auch nicht auf die Schauspielschule in London gegangen, weil das ein hohes finanzielles Risiko war und wir kein Geld hatten. Ich habe mir völlig größenwahnsinnig Geld geliehen.

Sie haben dann in London auf der Guildhall School of Music and Drama studiert: War das mit Blick auf eine internationale Karriere?

Schon mit Anfang 20 habe ich mich damit auseinandergesetzt, welche SchauspielerInnen über mehrere Jahrzehnte eine inte­ressante Karriere hatten, und viele davon waren auf britischen Schauspielschulen. Ich möchte den deutschen Film nicht schlechtreden, gerade in den vergangenen Jahren kamen sehr viele sehr gute Projekte aus Deutschland und Europa, aber es wird auch viel Murks produziert. Mit vierzehn war ich drei Monate mit einem Schüleraustausch im Staat New York, seitdem hatte ich mir vorgenommen, auf Englisch zu studieren. Das Studium in London war Teil des Plans, so gutes Englisch zu lernen, dass ich auch auf dem englischen oder amerikanischen Markt funktionieren kann.

In »September 5« von Tim Fehlbaum spielen Sie die einzige relevante weibliche Figur in einem Newsroom voller Männer, eine Situation, die in den Siebzigerjahren üblich war. Haben Sie das Gefühl, dass sich infolge der #MeToo-Debatte die Rollen verändert haben?

Ja, auf jeden Fall. Ich erinnere mich, dass ich mich bereits ein Jahr später am Set sicherer gefühlt habe. Das Arbeitsklima hat sich grundlegend verändert.

Inwiefern?

Wenn ich jetzt das Wort ergreife, ist es selbstverständlicher, dass ich ernst genommen werde. Wenn ich jetzt sage: »Das möchte ich nicht«, dann wird das respektiert. Und auf gar keinen Fall wird sich irgendjemand trauen, »Hab dich nicht so!« zu sagen. Wenn wir uns die Statistiken anschauen, wie viele Frauen in unterschiedlichen Gewerken übergangen oder unterschätzt werden, wie wenig substanzielle Frauenrollen es im Vergleich zu Männerrollen gibt, da müssen wir uns nichts vormachen, da sieht es immer noch übel aus. Und trotzdem hat sich grundlegend etwas verändert in der Art und Weise, wie Frauenrollen geschrieben werden, wie die Konversation geführt wird, welche Geschichten wie erzählt werden. Warum gibt es eigentlich so wenig Geschichten für Frauen über 45? Warum haben wir als Gesellschaft entschieden, dass die nicht erzählenswert sind? 

Reden Sie auch mit, wenn es um die Darstellung von Frauen in einem Film geht?

Das ist auf jeden Fall eine Frage, die für mich eine Rolle spielt: Wie sind Frauen dargestellt? Ist es genau beobachtet? Ist es gut geschrieben? Wenn jemand ein klischeehaftes, veraltetes Bild von einer Prinzessin aufschreibt, dann interessiert mich das nicht. Bei einer gut beobachteten Figur muss ich mir die Frage nicht stellen. Einfluss nehme ich, wann immer ich kann, aber lieber ist mir, den Autoren, den Autorinnen zu vertrauen. Bill Nighy hat das in einem Interview mal sehr schön beschrieben: Man sollte die Projekte so auswählen, dass alles, was man über eine Figur wissen muss, im Text steht. Normalerweise sind Projekte, die ich zusage, so gut geschrieben, dass ich nicht viel Einfluss nehmen muss.

Tim Fehlbaum hatte überlegt, mehr Frauen in die Geschichte hineinzuschreiben. Wenn es dann eine Szene gibt, in der Ihre Figur zum Kaffeeholen geschickt wird, und Sekunden später wird klar, man hat die dringend gebrauchte Übersetzerin weggeschickt, ist das schon eine kleine Rüge für die Männer, oder?

Ja, das ist eine Szene mit einer feministischen Punchline, die sehr klug ist, ohne ausgestellt zu sein. Ich mag die Feinheit, mit der das eher beiläufig erzählt wird. Tim hat sich in der Vorbereitungszeit quasi entschuldigt, dass es keine weitere größere Frauenrolle geben kann, weil das unrealistisch wäre. Da möchte ich ihm auch zugutehalten, dass er schon 2011 gegen großen Widerstand der Förderer Hannah Herzsprung in der zentralen Rolle seines Science-Fiction Films »Hell« besetzt hat. Ihm wurde damals immer gesagt, wir mögen dein Buch, aber wir wollen keine Frau in der Hauptrolle. Die Zuschauer wollen das nicht sehen. Da sind wir wieder beim Thema, solche Dinge haben sich verändert. Tim sagt, bei ihm liege es daran, dass er vier Schwestern hat, die ihm eingebläut haben, dass er tolle, weibliche Rollen schreiben soll. Schon in unserem ersten Gespräch über Marianne war klar, dass es ihm, gerade weil sie die einzige Frau ist, sehr wichtig war, sie als Heldin zu erzählen, die fünf Schritte vorausdenkt, die in brenzligen Momenten gute Einfälle hat.

Gibt es Vorbilder, Schauspielerinnen, die Sie beeindruckt und inspiriert haben?

Sehr viele. Kürzlich habe ich »Lee« gesehen mit Kate Winslet, sie gehört natürlich dazu; Cate Blanchett ist auch dabei, Tilda Swinton und Julianne Moore, Wahnsinn. Und was Mikey Madison in »Anora« gespielt hat, ganz toll, ebenso Carla Sofia Gascon in »Emilia Pérez«. Und »Wicked« ist zwar nicht mein Ding, aber Ariana Grande und Cynthia Erivo, die haben geliefert. Es gibt wirklich viele Schauspielerinnen, die ich sehr, sehr gut finde.

Das heißt, sie kommen noch dazu, ins Kino zu gehen?

Ja, ich liebe das Kino!

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt