Kritik zu Ernest Cole: Lost and Found
In seinem bei den Filmfestspielen in Cannes 2024 prämierten Dokumentarfilm erinnert der haitianische Regisseur Raoul Peck an den zu Unrecht vergessenen südafrikanischen Fotografen Ernest Cole
Fotos aus dem Alltag des südafrikanischen Apartheidregimes: »Non Whites Only« steht über dem Bahnsteig, auf dem sich Massen schwarzer Menschen drängeln, durch Fenster in die bereits überfüllten Züge quetschen oder sich an den Türen festhalten. »Whites Only« heißt es über der gegenüberliegenden Treppe, auf der sich wenige Weiße auf den Bahnsteig begeben. Seine Heimat, so der schwarze Fotokünstler Ernest Cole zu Beginn von Raoul Pecks Film, sei ein »Land der Schilder«.
Ende der 50er Jahre beginnt Ernest Cole, den »Horror of Apartheid«, wie er in einem frühen Interview sagt, in Schwarz-Weiß-Fotos festzuhalten. Oft unter Lebensgefahr und mit versteckter Kamera dokumentiert er Szenen alltäglicher Gewalt, zeigt die katastrophalen Arbeitsbedingungen schwarzer Minenarbeiter und schießt erschütternde Bilder von Zwangsumsiedlungen. Im Mai 1966 flüchtet Ernest Cole mit seinen Negativen in die USA.
Dort stellt er 1967 seine Fotos zu dem Bildband »House of Bondage« zusammen, der als eine der bedeutendsten Fotodokumentationen des 20. Jahrhunderts gilt und den Mittzwanziger über Nacht bekanntmacht. Der frühe Ruhm aber wird Cole zum Ballast, da er sich mit seinen Aufträgen auf einen »Chronisten von Elend, Hunger und Herzlosigkeit« reduziert sieht. »Die Welt«, so stellt er desillusioniert fest, »liebte uns nur, solange wir unter der Apartheid litten.« Sein Leben in Amerika beschreibt er als einen »Abstieg in die Hölle«, der ihn schließlich, nach kurzen Zwischenstationen in Schweden, in die Obdachlosigkeit am Bahnhof an der 34. Straße in New York führt. Schon Anfang der 80er Jahre hatte er mit dem Fotografieren aufgehört, seine Kamera »verloren, vergessen oder verkauft«, er weiß es nicht mehr. Seine Bilder geraten in Vergessenheit. Erst in den letzten Jahren dokumentierten Ausstellungen sein Werk, so 2023 die Deutsche Börse in Eschborn und das Museum of Modern Art in New York.
Ähnlich wie in seinem Film »I Am Not Your Negro« (2016) über den amerikanischen Schriftsteller James Baldwin legt Regisseur Raoul Peck einen Text (Sprecher: LaKeith Stanfield) aus Coles Ich-Perspektive über die Bilder – nach Berichten von »Zeugen seines kurzen Lebens«, heißt es im Vorspann. Was davon semifiktional ist, was von Cole selbst stammt, macht der Film leider nicht deutlich. In der zweiten Hälfte weitet Peck den Blickwinkel auf die bewegten späten 60er Jahre, bezieht Ereignisse wie die Proteste gegen den Vietnamkrieg oder die amerikanische Bürgerrechtsbewegung ein. Am Ende wartet der Film noch mit einer Pointe auf: 2017 werden einem Neffen Ernest Coles aus einem schwedischen Banksafe drei Kisten mit etwa 60 000 sorgfältig sortierten Fotos und Negativen aus Coles amerikanischer Zeit übergeben. Wie sie dorthin gelangten und wer über die Jahre die Depotkosten zahlte, bleibt mysteriös. Die Bank hüllt sich in Schweigen.
Die Befreiung Südafrikas, die er in seinem frühen Interview prophezeite, hat Ernest Cole nicht mehr erlebt. Er stirbt im Februar 1990, wenige Wochen vor der Entlassung Nelson Mandelas aus jahrzehntelanger Haft, im Alter von 49 Jahren in New York.
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