Kritik zu Das kostbarste aller Güter
Michel Hazanavicius (»The Artist«) wagt sich als Regisseur erneut auf neues Terrain und erzählt in seinem Animationsfilm von den Gräueln des Holocaust als scheinbar naive Fabel über die Rettung eines Kindes
Wie lässt sich heute einer jungen Generation vom Holocaust erzählen? Der Franzose Michel Hazanavicius versucht es in seinem neuen Film »Das kostbarste aller Güter« mit einer mehrfachen Verfremdung: Er nutzt Animation, um keine realen Gräuel darstellen zu müssen, und er erzählt es in Form eines Märchens. Es war einmal …
Ein Wald im tiefsten Winter. Hier leben ein Holzfäller und seine Frau, ein kinderloses Paar in einer einfachen Hütte. Durch die Schneelandschaft schnellen Güterzüge, die Menschen ins Vernichtungslager transportieren, doch die Frau ahnt nichts von der Todesindustrie. Sie betet zu den »Zuggöttern«, ihr beim Vorbeifahren ein Almosen abzuwerfen. Ihr Wunsch wird erfüllt mit einem kleinen Bündel, das ein verzweifelter Vater aus dem Waggon geworfen hat, um seinem Kind wenigstens die Chance auf ein Überleben zu verschaffen. Die Frau trägt das Neugeborene nach Hause, entschlossen, es zu retten, gegen Widerstände und Vorurteile. Der Mann erkennt, dass das kleine Mädchen jüdisch ist und weigert sich zunächst, das Kind von »Herzlosen« zu behalten. Bis er mit der eigenen Hand in dessen Brust den Herzschlag vernimmt. Als die Frau vor dem Hass anderer Holzfäller mit dem Kind fliehen muss, erfährt sie Hilfe von einem Einsiedler, dessen Gesicht im »anderen Krieg« zerfetzt wurde.
»Das kostbarste aller Güter« ist die Adaption der gleichnamigen Fabel von Jean-Claude Grumberg, ein 1939 geborener jüdischer Autor, dessen Vater in Auschwitz ermordet wurde und der u. a. mit Costa-Gavras das Drehbuch zu dessen »Stellvertreter« (2002) verfasst hat. In seinem 2019 erschienenen Jugendroman verarbeitet er den Holocaust in einer poetischen Allegorie, die bei allem Schrecken auch von Zusammenhalt und Mitgefühl handelt. Es ist der erste Animationsfilm des 57-jährigen Regisseurs Michel Hazanavicius, dessen »The Artist« 2011 mit fünf Oscars ausgezeichnet wurde und der seitdem sein Werk immer wieder um neue Genres erweitert, von den Agentenklamotten der »OSS 117«-Reihe über Kriegsdramen wie »Die Suche« bis zur Zombiesatire »Final Cut of the Dead«.
Mit »Das kostbarste aller Güter« thematisiert der Enkel von aus Litauen stammenden Juden erstmals die Schoah, ohne jedoch den historischen Kontext, Polen im Winter 1943 oder den Antisemitismus, explizit zu benennen. »Ist es wirklich passiert?«, fragt der Erzähler an einer Stelle, wie ein leiser, beißender Kommentar gegen das Vergessen.
Der Stil, nach Hazanavicius' eigenen Zeichnungen, erinnert an Holzschnitte ebenso wie an die Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts und wird im Verlauf des Films zunehmend härter und brüchiger, die Bilder düsterer und damit auch der Score von Alexandre Desplat, wenn das Schicksal des Vaters im Zug in den Fokus rückt. Nach der Premiere in Cannes reiste Hazanavicius letzten Herbst wochenlang durch Frankreich, um seinen Film Schulklassen zu zeigen und mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen. »Das kostbarste aller Güter« ist als Film wie als Dialogangebot gleichermaßen geglückt.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns