Kritik zu Acht Berge
Felix van Groeningen und seine Partnerin Charlotte Vandermeersch haben Paolo Cognettis gleichnamigen Roman als eine wehmütige, helle Hymne an die Freundschaft und die Schönheit der Berge verfilmt. Der Jurypreis vom Filmfestival in Cannes ist wohlverdient; er gilt auch den hervorragenden Hauptdarstellern
Die Natur, schimpft Bruno vergnügt, ist ein Wort, das nur Stadtmenschen gebrauchen. Für ihn, den Bergbauern, hat sie viele Gesichter und Namen. Sie lauten Wald, Weg, Fluss, Wiese und See. Sein Freund Pietro, der ein paar Bekannte aus Turin mit ins Aostatal gebracht hat, hört ihm aufmerksam zu; er steht zwischen beiden Welten.
Die zwei kennen sich von Kindesbeinen an. Pietros Vater machte hier in jedem Sommer Ferien, Ehefrau und Sohn im Schlepptau, um die Berggipfel zu erklimmen. Bruno, der Neffe ihrer Vermieterin, war das letzte Kind in dem Dorf, das langsam sterben würde. Die Spielkameraden waren unterschiedlicher Herkunft – ein Junge aus der Stadt, der schon früh zu schreiben beginnt, und ein Kuhhirte, der ein rätselhaftes Glück in den Mühen des Alltags empfindet – aber zwischen ihnen entwickelte sich die eine Freundschaft, die sich im Leben nicht wiederholt.
Paolo Cognettis autobiografischer Roman handelt von ihrer einzigartig engen Verbindung. Er ist zugleich das Porträt eines Freundes und der Bildungsroman des Schreibenden. Felix van Groeningen und Charlotte Vandermeersch haben das Buch mit solch achtsamer Freizügigkeit adaptiert, dass man sich in zweieinhalb Stunden nie die Frage stellt, wer von beiden nun eigentlich die Hauptfigur ist. Mit dem Ende der Kindheit verlieren sie sich aus den Augen, aber nie aus dem Sinn. Als sie Anfang 30 sind, erhält ihre Freundschaft eine zweite Chance. Eine tiefe, zuversichtliche Befangenheit herrscht zwischen ihnen, als sich Pietro (Luca Marinelli) und Bruno (Alessandro Borghi) jetzt wiederbegegnen: Sie müssen sich neu kennenlernen. Pietros Vater ist gestorben und hat ihm eine Berghütte hinterlassen. Eigentlich ist das nur ein Steinhaufen, aber Bruno hat geschworen, sie im Sommer zu errichten. So kommt es, dass Pietro ein Versprechen einlöst, das er nicht gab. Er muss sein Erbe nicht allein antreten.
In den letzten Lebensjahren des Vaters, die Pietro fehlen, nahm Bruno die Sohnesrolle ein. Er kannte ihn besser in dieser Zeit. Das ist kein Grund zur Eifersucht, sondern zu einer Wissbegier, die das Verlorene aufholen will. Die heimliche Hinterlassenschaft besteht darin, die Freunde wieder zusammenzuführen. Pietro lernt Entscheidendes, als er zusammen mit Bruno die Hütte aufbaut. Sie wird ihnen beiden gehören.
Gewiss, das Band, das sie neu knüpfen, beruht auch auf Gemeinsamkeiten, aber doch vor allem auf der Freude am Anderssein des Kameraden. Ihre unterschiedlichen Lebensweisen kollidieren nicht, sondern bereiten einen fruchtbaren Boden. Wie innig ihr Verhältnis ist, offenbart das Drehbuch allein schon in einem kleinen, gleichsam rhythmischen Detail, das sich nicht im Roman findet: Der eine wartet jeweils ab, bis das Glas des Freundes gefüllt ist, um dann zusammen zu trinken.
In ihrem Zusammensein ist Platz für andere, aber er ist nicht sehr groß. Bruno verliebt sich in eine Freundin Pietros, mit der er gemeinsam eine Käserei aufbaut und eine Tochter zeugt; auch dies kein Anlass zur Eifersucht. In Pietro weckt die Wiederentdeckung des Aostatales eine Reiselust, die ihn bis zum Himalaya führt. Derweil, im Lauf der Jahre, zeigt sich, das Brunos Liebe zu den Bergen unheilbar ist und seine Ehe und seine Existenz bedroht.
Die Erkenntnis, dass das Leben an einem anderen Ort neue Gestalt annimmt, ist ein weiteres Erbe, das Pietro antritt. Sie ist auch ein Erzählimpuls van Groeningens, dessen Kino von Anfang an die Neugier auf ferne Sphären prägt, namentlich die Bluegrass-Kultur in »The Broken Circle« und die Vielgestaltigkeit der amerikanischen Szenerien in »Beautiful Boy«. Nun gibt sich das Regieduo aus dem flachen Belgien der Faszination der Bergwelt hin. Das geschieht offenen Auges: Van Groeningens treuer Kameramann Ruben Impens filmt sie so, dass sie nicht überwältigend wirkt, sondern ein Lebensraum wird. Noch ein zweites Grundthema ihres Werks findet das Regiegespann in Paolo Cognettis Roman wieder: die Trauer darüber, wie etwas im Leben zerbricht, das gut und innig und unzerstörbar schien.
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