Felix Van Groeningen: Akzeptieren, was nicht zu ändern ist

Charlotte Vandermeersch und Felix Van Groeningen. © DCM / Christophe De Muynck

Charlotte Vandermeersch und Felix Van Groeningen. © DCM / Christophe De Muynck

Felix Van Groeningen ist als Regisseur bekannt, seinen ­internationalen ­Durchbruch ­hatte er mit »Die Beschissenheit der Dinge« und »The Broken Circle«. Oft war seine ­Lebensgefährtin Charlotte ­Vandermeersch als Darstellerin mit ­dabei. Jetzt haben die beiden einen Roman Paolo Cognettis verfilmt

Ihr Film ist die Adaption des gleichnamigen Romans von Paolo Cognetti aus dem Jahr 2016, der von der jahrelangen Freundschaft zweier Männer in den italienischen Alpen handelt. Wie kamen Sie auf den Stoff?

Felix Van Groeningen: Es war eher so, dass er zu mir kam. Jemand hatte mir davon vorgeschwärmt, und ich kaufte das Buch, ließ es dann aber lange liegen, kam nicht dazu, es zu lesen. Erst ein Jahr später fiel es mir wieder ein, als mich unser Produzent fragte, ob ich mir vorstellen könnte, ausgerechnet diesen Roman zu verfilmen. Er hatte die Rechte erworben, ohne zu wissen, dass es mir schon mal ans Herz gelegt wurde. Ein merkwürdiger Zufall oder ein Zeichen? Aber ich zögerte. Eine italienische Geschichte und ich? Konnte ich mir nur schwer vorstellen. Außerdem war ich zu dem Zeitpunkt gar nicht auf der Suche nach einem neuen Projekt. Ich fing dann trotzdem an zu lesen und war schnell so begeistert, dass ich Charlotte damit ansteckte. Die letzten Kapitel des Buchs haben wir uns sogar gegenseitig vorgelesen, in unserem Van auf dem Weg durch Italien. Am Ende heulten wir beide.

Was genau hat Sie in dem Moment so berührt?

Charlotte Vandermeersch: Ohne jetzt zu viel zu verraten, aber für uns ging es nicht so sehr um Trauer wie um das Akzeptieren dessen, was nicht zu ändern ist. Weil man etwas über das Auf und Ab des Lebens lernt, auch die Sackgassen, und wie man seinen eigenen Weg findet und ihn mit Haltung geht. Und wie man akzeptiert, dass jemand einen anderen Weg hat, der eine andere Richtung einschlägt. Das kann schmerzhaft sein, aber im Akzeptieren liegt auch eine Zärtlichkeit, es kann kathartisch sein.

Sie haben gemeinsam das Drehbuch geschrieben . . .

Van Groeningen: Das war zunächst der Plan: zusammen zu ­schreiben, und ich sollte es inszenieren. Dann kam der Lockdown, und aus dem Schreiben wurde plötzlich ein sehr intensiver Prozess, weil wir nicht rausgehen konnten und uns so ganz auf den Film konzentrierten. Und wir hatten auch privat eine schwere Zeit als Paar. Das gemeinsame Nachdenken über diesen Stoff und das Schreiben daran haben uns im Lockdown wieder näher zusammengebracht. Wir redeten über die Charaktere und dabei auch über uns selbst. Wir haben viel gelernt, was es heißt zu lieben, ob als Paar, Freunde oder Eltern. 

Vandermeersch: Es lief erstaunlich gut, wir hatten schnell eine erste Fassung, die vielversprechend war. Felix war so euphorisch, dass er mich fragte, ob wir nicht nur das Drehbuch zusammen machen, sondern gleich den gesamten Film, in Co-Regie. Ich saß am Küchentisch und schaute ihn nur an und sagte spontan: »Das ist eine wirklich gute Idee.« Ich bin auch Schauspielerin und musste ein paar Sachen absagen, ein geplantes Theaterengagement und einen Seriendreh. Aber ich war mir gleich sicher, dass es die richtige Entscheidung war.

Warum?

Vandermeersch: Kreativ und beruflich haben wir sehr unterschiedliche Leben geführt, und die Vorstellung, jetzt unsere Energien zu bündeln und an einem Strang zu ziehen, zumindest für ein paar Jahre, fühlte sich sehr gut an. Also sind wir mit unserem kleinen Sohn nach Italien in die Berge gezogen, und es wurde auch für ihn eine wunderschöne Zeit, weil wir viel  in der Natur sein konnten. Und ich war froh, für mein Debüt als Regisseurin jemanden an der Seite zu haben, der sehr viel Erfahrung hat. Der Dreh war so schon nervenaufreibend und kompliziert genug, da war es sehr beruhigend zu wissen, dass wir uns aufeinander verlassen können.

Und warum auf Italienisch?

Vandermeersch: Das Drehbuch schrieben wir zunächst auf Flämisch, dann Englisch, erst am Ende Italienisch. Aber es war von Anfang an klar, dass wir nur am Originalschauplatz im Aostatal und auf Italienisch drehen konnten, alles andere wäre falsch gewesen. Paolo Cognetti hatte uns in seine kleine Berghütte eingeladen, um uns kennenzulernen und sich mit uns auszutauschen. Er zeigte uns sein Dorf und die Leute, die ihn zu seinem Roman inspiriert hatten. Wir lernten dann beide Italienisch für den Film, um ohne Dolmetscher Regieanweisungen geben zu können und präziser auf die Dialoge achten zu können. Die Arbeit mit den Schauspielern und mit der Sprache war mein Gebiet. 

Van Groeningen: Charlotte hatte gleich einen sehr guten Draht zu den Kindern und den Darstellern insgesamt, auch die Arbeit an den Dialogen fiel ihr viel leichter als mir. Jeder übernimmt mal die Führung, aber alle großen Entscheidungen haben wir gemeinsam getroffen. Manchmal ganz spontan am Set, ein andermal dauert es eine Weile, aber am Ende sind wir uns dann doch immer einig. 

Vandermeersch: Und manchmal sagst du einfach: »Nein!«

Van Groeningen: Gefolgt von: »Tut mir leid.«

Inwieweit half Ihre eigene Erfahrung vor der Kamera bei der Arbeit mit Schauspielern?

Vandermeersch: Ich verstehe ihre Herangehensweise und Bedürfnisse sehr gut. Für mich war es vor allem bereichernd, aus nächster Nähe zu erleben, wie sich die Kinder auf Szenen einlassen. Sie waren alle außerordentlich talentiert, hatten aber noch nie vor einer ­Kamera gestanden. Sie können sehr spontan sein, dann ist es wichtig, dass es im Rahmen bleibt, auch im Zusammenspiel mit den erwachsenen Schauspielprofis. Der Dreh fand unter besonderen Umständen statt, und ich habe immer wieder gespürt, wie wichtig es den Darsteller*innen war, mit mir jemanden zu haben, die insbesondere die Herausforderungen im Schauspiel versteht. Ich fühlte mich als Regisseurin respektiert und habe gleichzeitig als Schauspielerin durch den Seitenwechsel viel gelernt.

Was waren die Herausforderungen, den Roman zu adaptieren?

Vandermeersch: Wir versuchten, ihm möglichst treu zu bleiben. Er hat viele Ebenen, die den Reichtum der Geschichte ausmachen, das Verhältnis der Jungs, die Rollen als Söhne und Väter. Aber auch der Berg als Metapher, das alteingesessene Landleben, die Jahreszeiten der Natur und auch des Lebens. Wenn man einen Roman für die Leinwand adaptiert, versucht man oft, es simpler zu machen. Wir wollten alles behalten und trotzdem nicht überladen. Episch und einfach zugleich.

Wie funktioniert das?

Vandermeersch: Wir wollten einen Film, der nichts aufzwingt, sondern Raum gibt für eigene Betrachtungen und Gedanken über das eigene Leben. Was wir änderten, war die Reihenfolge. Das Buch springt zwischen den Zeiten, wie ein Bewusstseinsstrom. Wir wollten es aber chronologisch erzählen, wie das Leben selbst, das sich nicht zurückdrehen lässt. Die Zeit vergeht, man verliert Menschen aus den Augen, man bereut so manches, und dann sterben sie und man hat es verpasst, sich auszusprechen. Das Leben kann sehr schmerzhaft sein, für uns alle. Und es kann auch wunderschön sein, wenn wir Menschen begegnen und wiederbegegnen, wenn wir verzeihen können oder uns verziehen wird. 

Der Film handelt auch davon, sich an die Herkunft zu erinnern, an das, was einen prägt. Wurde dieser Fokus durch die Isolation im Lockdown verstärkt?

Vandermeersch: Auch für uns waren die Pandemie und der Lockdown eine Zeit des Innehaltens und Nachdenkens. Felix und mir wurde sehr deutlich, dass wir zu lange getrennt verbracht und uns etwas auseinandergelebt hatten. Durch den Film und die Geschichte konnten wir unsere eigene Situation reflektieren, unser Leben als Paar, als Eltern und auch als Kinder unserer Eltern. Wie alle haben wir unsere Familien und Freunde vermisst, einfach mal jemanden in den Arm zu nehmen und an sich zu drücken. Die Sehnsucht nach menschlichem Kontakt und Gemeinschaft, nach Freiheit und Natur hat das Schreiben stark geprägt.

Die Männerfreundschaft im Zentrum ist sehr innig, ohne romantisch zu sein.

Vandermeersch: Wir sind die Freundschaft tatsächlich wie eine Liebesgeschichte angegangen, weil die Bande zwischen den beiden so zärtlich sind, wie man es zwischen Männern selten erlebt. Ihre Sensibilität zu zeigen, war für mich eine wunderschöne Erfahrung, auch weil die beiden Darsteller sehr offen damit umgehen konnten. Zwischen den beiden Charakteren gibt es sehr viel Schweigen. Ihre Zuneigung wird nicht groß thematisiert, aber sie wird von beiden verstanden. Nicht alles muss in Worte gefasst werden, und für das, was zu sagen ist, findet sich ein Weg. Auch wenn es manchmal Jahre dauert. Dieses Schweigen kenne ich auch aus meinen Freundschaften. Wenn man eine Entscheidung von jemandem nicht versteht oder verletzt wurde, dann sagt man oft nichts, weil man sich kein Urteil erlauben will oder es zumindest besser für sich behält. Und weil man niemanden ändern kann, man kann die anderen nur lieben, wie sie sind.

Die Berge sind visuell sehr präsent, sie haben auch Einfluss auf die Freundschaft, spiegeln die Charaktere wider. Warum spielt die Natur eine so wichtige Rolle?

Van Groeningen: Viel davon ist bereits im Roman angelegt. Es finden sich wunderbare Landschaftsbeschreibungen darin, wir haben versucht, dafür einen filmischen Ausdruck zu finden, ohne es nur abzubilden.

Vandermeersch: Auch die vier Jahreszeiten waren uns sehr wichtig, nicht nur in der Natur im Laufe von 12 Monaten, sondern auch übertragen auf ein Menschenleben. Von der Kindheit der beiden Jungs bis zu den verschiedenen Stationen als Erwachsene, der Sesshaftigkeit Brunos und der Rastlosigkeit Pietros, den es bis nach Nepal verschlägt. 

Macht es einen Unterschied, die Alpen zu filmen oder den Himalaja? Oder sind alle Berge auf eine Art ähnlich?

Van Groeningen: Es ist schon extrem schwierig, einen einzelnen Berg in Bilder zu bannen, geschweige denn ein Gebirge. Wir haben im Aostatal gedreht, und unser Berg dort sah jedes Mal anders aus. Über sechs Monate haben wir dort verbracht und ihn aus jedem Blickwinkel gesehen, zu jeder Tages- und Jahreszeit. Morgens, mittags und in der Dämmerung, im Sommer und im Winter. Aber erst jetzt beginne ich langsam, den Berg zu begreifen. 

Vandermeersch: Wir filmten schon deswegen anders, weil wir sehr unterschiedliche technische Voraussetzungen hatten. In Italien konnten wir die Crew per Helikopter zum Gipfel fliegen. Für Nepal waren wegen Covid die Vorbereitungen sehr schwierig, und wir entschieden uns, den Berg mit einer kleinen Crew und dem Material zu Fuß zu bezwingen. Wir wanderten eine Woche durch die Bergdörfer, erkundeten das Leben dort oben ganz langsam. Während in Italien die Bergdörfer aussterben und die Leute in die Städte ziehen, gibt es in Nepal noch eine sehr rege Zivilisation in den Hochregionen.

Bei Bergpanoramen denkt man unwillkürlich an Breitwandformat. Sie haben sich aber für das klassische 4:3 entschieden. Warum?

Van Groeningen: Uns wurde bei der Vorbereitung klar, dass der Berg sehr gut in dieses fast quadratische Format passt, weil es das Vertikale besser zur Geltung bringt. Was man links und rechts verliert, gewinnt man an Höhe. Und wir hatten den Eindruck, dass man sich mit diesem Format den Bildern eher zuwendet, statt sich zurückzulehnen. Ich hatte 4:3 nur ein Mal vor vielen Jahren in der Filmhochschule benutzt und es gehasst. Ich wollte richtiges Kino machen! Nicht Video oder 16 mm. Erst jetzt erkannte ich, wie viel Freiheiten es mir erlaubt, Bilder anders zu kadrieren. Mir hat das die Augen geöffnet.

Wie herausfordernd war es, beim Dreh in freier Natur auf Licht und Witterung angewiesen zu sein?

Vandermeersch: Logistisch ein Alptraum! Wir mussten im genau richtigen Moment am richtigen Ort sein, oft hatten wir nur wenige Minuten oder gar nur Sekunden, um eine Stimmung einzufangen. Und dann musste auch noch das Wetter mitspielen! Wir mussten also spontan sein, nicht nur einen Plan A und einen Plan B haben, sondern mindestens noch zwei mehr. Es war ein physisch sehr anstrengender und auch abenteuerlicher Dreh, wir kamen immer wieder an unsere Grenzen. 

Van Groeningen: Aber uns war von Anfang an klar, dass wir nichts im Studio nachstellen. Wir ziehen das durch! Wir bauten dieses Haus auf 2200 Metern, wir schliefen in einer Hütte auf 3000 Metern, um den Sonnenaufgang zu drehen. Die Produktion und die Crew davon zu überzeugen, dauerte ein bisschen, aber als alle an Bord waren, entwickelte sich daraus eine Energie, die uns getragen hat. Und wir hatten zum Glück Schauspieler, die zu allem bereit waren. Luca Marinelli als Pietro etwa wanderte mit diesem riesigen Rucksack unermüdlich im Himalaja, auch wenn am Ende davon im Film nur ein Bruchteil zu sehen ist. 

Die zentrale Beziehung besteht ohne viel Worte. Zugleich handelt der Film vom Austausch durch Sprache . . .

Vandermeersch: Das hat viel mit Paolo zu tun, der ein brillanter Autor ist, aber vor allem ein stiller Beobachter. Er sagt oft lange nichts, um dann etwas oder jemanden in einem Satz auf den Punkt zu bringen. Auch Bruno ist ein Mann weniger Worte. Er ist Bauer, sehr bodenständig, direkt, aber nicht grob. Pietros Mutter bringt ihm die Literatur nahe, er lernt, wie wichtig Bildung ist. Umgekehrt lernt Pietro von Bruno, Dinge mit den eigenen Händen zu schaffen, Kontakt mit der Erde zu haben, Teil der Natur zu sein und sie nicht als das Andere zu verstehen. 

Als Soundtrack haben Sie dabei Lieder des schwedischen Singer-Songwriters Daniel Norgren benutzt. Warum diese ungewöhnliche Wahl? 

Van Groeningen: Vor einigen Jahren hatte er ein Album veröffentlicht, »Alabursy«, das wir viel hörten, als wir das Drehbuch schrieben, und das eine wichtige Inspiration wurde. So sehr, dass wir ihn schließlich für die Filmmusik anfragten. Seine Stimme hat etwas Verletzliches, und die Musik klingt zugleich bodenständig und fast traumhaft, Natur und Trans­zendenz. Wir nahmen Kontakt mit ihm auf, und es stellte sich heraus, dass er schon länger darüber nachgedacht hatte, sich in Richtung Filmmusik weiterzuentwickeln. Ein Glücksfall! Doch dann ging einiges schief, er stieg wieder aus, hatte Angst, in ein so großes Projekt eingebunden zu sein. Er ähnelt in vielem Bruno, er lebt in einem Haus mitten im Wald, macht seine Musik oft ganz für sich allein, nimmt zu Hause analog auf seinem Vierspurtonbandgerät auf und mischt es in diese merkwürdigen Klangwelten. Ein paar Monate war dann Funkstille, aber uns ging er nicht mehr aus dem Kopf, und schließlich fragten wir ihn, ob wir bereits existierende Stücke verwenden dürfen. Wir probierten einige Songs aus – sie erwiesen sich als perfekte Begleitung.

Meinung zum Thema

Kommentare

Meine Frau und ich haben gestern den Film gesehen und waren fasziniert. Selten hat so ein Film im Anschluss zum Diskutieren angeregt. Ich hab mich schon beim Anschauen gefragt, wie es gelungen ist die Natur der Berge mit allem Wetterwechsel so auf die Leinwand zu bringen.
Nur zwei kleine Episoden scheinen mir nicht ganz der Wahrheit zu entsprechen. Ich frage mich ob das Paolo Cognetti in seinem Roman wirklich so dargestellt hat:
Die beiden Jungen sind alleine am Bergsee. Ich glaube kaum, dass sie in Unterhosen gebadet haben. Im Alter von 15 habe ich mit drei Kollegen eine Bergtour gemacht. Wir haben uns am einsamen Bergsee nackt abgekühlt. O.K in der Pubertät ist man vielleicht noch genierlich aber sicher sind die beiden Männer - allein am See - im wahren Leben nackt schwimmen gegangen.
Wie gesagt ein kleines Detail, das dem grossartigen Film keinen Abbruch tut.

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