Netflix: »Frau im Dunkeln«
Das Versprechen auf ein Urlaubsparadies wird gebrochen, bevor es richtig zu sehen ist: Da wankt eine Frau am Strand nachts auf das Wasser zu, bricht zusammen und bleibt, mit dem Rücken zur Kamera, liegen. Vom ersten Moment liegt also der Schatten einer Vorahnung auf der sonnendurchfluteten Ferienidylle, die nach einem harten Schnitt im nächsten Moment zu sehen ist. Es ist die griechische Insel Spetses, auf der Leda Caruso (Olivia Colman) ankommt, wo die Professorin für italienische Literatur ihren sommerlichen Arbeitsurlaub verbringen wird, nur sie und ein Koffer voller Bücher. Am Hafen wird die Britin von Lyle (Ed Harris) erwartet, er kümmert sich als Hauswart um das von ihr gemietete Häuschen, ein pittoresker Traum wie aus dem Bilderbuch, das verfaulte Obst auf dem Esstisch irritiert Leda nur kurz.
Die Saison hat noch nicht richtig begonnen, und die geschiedene Endvierzigerin hat den herrlichen Sandstrand ganz für sich allein, inklusive der vollen Aufmerksamkeit des gut aussehenden Studenten Will (Paul Mescal), der an der Strandbar arbeitet. Allen anderen gegenüber gibt sie sich abweisend, sie will ihre Ruhe. Doch die wird empfindlich gestört, als eine laute US-griechische Großfamilie aus New York am Strand einfällt, deren Kindergeschrei und vulgäre Streitereien zwischen den Erwachsenen Leda von der Lektüre abhalten.
Dann verschwindet ein kleines Mädchen aus der Familie, alle sind in heller Aufregung. Leda hilft bei der Suche – und findet das Kind. Die junge Mutter Nina (Dakota Johnson) ist überglücklich, doch das Mädchen lässt sich nicht beruhigen: Seine Puppe bleibt verschwunden. Bald wird klar, dass Leda sie heimlich an sich genommen hat.
Die Situation löst offenbar bei ihr verdrängte Erinnerungen aus: an ihre eigene Zeit als junge Mutter und aufstrebende Akademikerin, die ihre Karriere nicht hintanstellen wollte. Der Film springt nun zwischen den beiden Zeitebenen; auf der Insel entwickelt sich die Situation zu einem Psychothriller unter gleißender Sonne, in der das laute Verhalten der Familie immer bedrohlicher wirkt, während sich langsam Ledas Vorgeschichte aufblättert, die Identitätssuche einer Frau, die in der Mutterrolle allein keine Erfüllung findet.
Das Regiedebüt der Schauspielerin Maggie Gyllenhaal setzt sich offen mit unbequemen Fragen über das Muttersein und berufliche Selbstverwirklichung auseinander. Die Vorlage, »Frau im Dunkeln«, stammt von der italienischen Bestsellerautorin Elena Ferrante. Gyllenhaal, die bei der Weltpremiere in Venedig für das beste Drehbuch ausgezeichnet wurde, ändert die Herkunft der Hauptfigur und das Setting: Im Roman ist Leda Englischprofessorin in Florenz und macht ihren Strandurlaub an der kalabrischen Küste. Ansonsten bleibt sie nah an Atmosphäre und Tonfall der Vorlage. Die andere Welt, in die sich die Protagonistin in diesen Sommerwochen zurückzieht, erweist sich dabei als Spiegel ihres Unterbewusstseins, in dem sie sich mit ihren eigenen Schuldgefühlen und Selbstzweifeln konfrontiert sieht. Als Krux des Urlaubs erweist sich für Leda einmal mehr, dass der Mensch sich noch so weit vom Alltag entfernen mag, er nimmt doch immer sich selbst mit.
Olivia Colman verkörpert diese Leda widersprüchlich und mit spürbarer Freude am Nicht-gefallen-Müssen; sie geht dabei weiter als bei ihren bisherigen »bösen« Figuren, die immer auch noch etwas Komisches hatten, ob als selbstsüchtige Königin in Yorgos Lanthimos' »The Favourite« oder als toxische Stiefmutter in Phoebe Waller-Bridges »Fleabag«. Hier fehlt der Schalk ganz, Colmans Spiel changiert unberechenbar zwischen distanziert beobachtend, durchlässig und verletzlich, dann wieder hart gegen sich und andere. Der Film ist ganz auf sie zugeschnitten. Vor allem aber tritt mit Frau im Dunkeln nun eine neue aufregende weibliche Regiestimme ins Rampenlicht. Von Maggie Gyllenhaal, der Filmemacherin, wird sicherlich noch viel zu hören sein.
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