Streaming-Tipp: »I'm Thinking of Ending Things«
Heißt sie nun Lucy oder Louisa oder Amy? Studiert sie Biologie oder Quantenphysik? Oder ist sie Kellnerin? Schon die einfachsten Zuordnungen verschwimmen irgendwann in diesem verwirrenden, doch umso faszinierenderen neuen Werk von Charlie Kaufman, der Adaption eines Romans von Iain Reid. Irgendwann muss man so ziemlich alles, was man sieht und hört, infrage stellen – ein Problem, vor dem auch die weibliche Hauptfigur steht. Sie, die Erzählerin des Films, gerät an diesem seltsamen Abend zunehmend ins Zweifeln, was ihre eigene Wahrnehmung und Identität angeht. Was ihre Beziehung angeht, sind die Zweifel schon zu Beginn übermächtig: Erst ein paar Wochen ist sie mit Jake zusammen, doch sie denkt schon daran, Schluss zu machen. Trotzdem fährt sie mit ihm aufs Land, um seine Eltern kennenzulernen.
Allein der Autofahrt durch eine leere, langsam einschneiende Landschaft widmet Kaufman 20 Minuten seines Films, doch dank der fantastischen Hauptdarsteller Jessie Buckley und Jesse Plemons ist keine Minute davon zu viel. Auch das spannende Wechselspiel zwischen dem inneren Monolog der jungen Frau und den Dialogen mit dem Freund, in denen beide sich Bonmots und gelehrte Zitate nur so um die Ohren hauen, hält bei der Stange. Irritieren da bereits ein paar Details ihrer Kommunikation – kann Jake etwa die Gedanken seiner Freundin hören? –, wird die Geschichte mit der Ankunft auf der Farm von Jakes Eltern immer bizarrer. Toni Collette und David Thewlis spielen mit deutlichem Vergnügen das mehr als verschrobene Paar. Das Abendessen wird ein Parcours der Peinlichkeiten. Beunruhigender sind freilich die toten Schafe im Stall, die Kellertür mit den Kratzspuren, dieses Kinderbild an der Wand, auf dem sich die junge Frau absurderweise selbst zu erkennen glaubt.
Nicht nur Identitäten werden in »I'm Thinking of Ending Things« instabil, auch die Zeit scheint zu entgleisen. Wie so oft verhandelt Kaufman Fragen von Bewusstsein und Wirklichkeit, von Fiktion und deren Konstruktion beziehungsweise Dekonstruktion. Nicht zuletzt die zahllosen literarischen Verweise verrätseln zunächst mehr, als sie erklären. Wordsworth und Tolstoi, Guy Debord und David Foster Wallace werden in Stellung gebracht, die eigene Sophistication wird zugleich ständig ad absurdum geführt, mit theatralischen Einschüben die Handlung kommentiert und persifliert. Dem Musical »Oklahoma!« kommt dabei eine spezielle Rolle zu, und irgendwo scheint ein müder Hausmeister auch etwas mit dem Geschehen zu tun zu haben.
»I'm Thinking of Ending Things« wird manche Betrachter ratlos zurücklassen, vielen auf die Nerven gehen. Aber er ist kein sinnfreies Spiel mit der Sinnzerstörung – es gibt einen Schlüssel! Von der traumwandlerischen Dynamik des Geschehens kann man sich freilich auch ohne Rätselraten mitreißen lassen, denn wovon Kaufman in dieser mehr und mehr im Schnee versinkenden Welt seines Films erzählt, erschließt sich auf intellektuelle wie auf emotionale Weise: von Einsamkeit und der Gnadenlosigkeit der vergehenden Zeit, sehr subtil auch von männlicher Gewalt. Einen melancholischeren Thriller kann man sich kaum vorstellen.
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