Es ist echter Film!

Über eine analoge Welle im aktuellen Kino
Hunter Schafer und Tilman Singer am Set von »Cuckoo« (2024). © Felix Dickinson / NEON

Hunter Schafer und Tilman Singer am Set von »Cuckoo« (2024). © Felix Dickinson / NEON

Sieht man den Unter­schied zwischen Zelluloid und digitalem Film? Schwer zu sagen. Immer mehr Regisseure und Kameraleute meinen aber: Man fühlt ihn.

»Resort Alpschatten« prangt über der Lobby des Hotels, über dem sich die grün bewachsenen Hänge der Berge erheben. Hier soll die 17-jährige Gretchen (Hunter Schafer) für einige Zeit leben, ihr Vater und ihre Stiefmutter arbeiten für den Besitzer, den netten, aber doch irgendwie seltsamen Herrn König (Dan Stevens), die Schwester Alma spricht nicht und leidet unter rätselhaften Anfällen. Natürlich ist »Alpschatten« ein sprechender Name – sogartig zieht »Cuckoo« seine Zuschauer in einen Alptraum hinein. Und Regisseur Tilman Singer ist ein Meister darin, mit Räumen eine Atmosphäre der Unheimlichkeit zu erzeugen. Die Lobby des Hotels scheint noch aus den Sechzigern zu stammen, mit einer muffigen Holztäfelung, spärlich gefüllten Regalen und einem ausgestopften Bären. Etwas stimmt nicht mit dieser Lodge, die die Kamera (Paul Faltz) in breitem Cinemascope erfasst. 

»Cuckoo«, der seine Premiere auf der diesjährigen Berlinale hatte und Ende August in die deutschen Kinos kam, ist auf dem Terrain des deutschen Films eine doppelte Besonderheit. Zum einen als fulminanter, spannender, hochprofessionell inszenierter Horrorfilm – wo doch sonst der deutsche Film einen Bogen ums Genrekino macht. Und zum anderen haben ihn Singer und Faltz auf 35 mm gedreht, auf echtem Zelluloid, auf Filmmaterial von Kodak. Man spürt das im Retrolook, in den warmen Farben und weichen Konturen. Für Tilman Singer ist aber der Look nicht das einzig Entscheidende, er dreht aus Überzeugung analog.

Das ist für deutsche Verhältnisse äußerst ungewöhnlich, fast alle Kinofilme werden heutzutage, spätestens seit den 2010er Jahren, bei uns mit digitalen Kameras realisiert; »Sisi & Ich« (2023) von Frauke Finsterwalder ist da eine Ausnahme. In den USA dagegen hat es immer schon eine kleine, aber feine Produktion von Filmen auf analogem Material gegeben; so haben etwa die Coen-Brüder und Wes Anderson auf Film gedreht. Und selbst potenzielle Blockbuster wie »Mission Impossible – Rogue Nation« (2015) und »Star Wars – Der Aufstieg Skywalkers« (2019) wurden analog gedreht. Wobei mit Blick auf Letzteren Aficionados raunen, Regisseur J. J. Abrams hätte sich vom analogen Material interessante lens flares, also Linsenreflexionen starker Lichtquellen, versprochen. 

Doch in den letzten Jahren und Monaten hat es geradezu eine Renaissance – um nicht zu sagen: eine Konjunktur – des analogen Films gegeben. Das lässt sich sehr leicht an den Programmen der großen Festivals festmachen. Beim Filmfestival von Venedig, das diesen Monat stattfindet, konkurrieren allein vier auf Zelluloid gedrehte Filme im Wettbewerb um den Goldenen Löwen: Pablo Larraíns »Maria« über die letzten Jahre der Opernsängerin Maria Callas in Paris, Luca Guadagninos Burroughs-Verfilmung »Queer« mit Daniel Craig, Brady Corbets in 70 mm gedrehter »The Brutalist«, in dem Adrien Brody einen Auschwitz-Überlebenden und späteren Architekten spielt, und Rachel Tsangaris »Harvest«, der im mittelalterlichen England situiert ist. Im »Orizzonti«-Wettbewerb laufen noch der experimentelle Musikfilm »Pavements« und das italienische Drama ­»Diciannove«. In Cannes war in diesem Jahr der Auftritt von analogem Zelluloid noch signifikanter. Insgesamt liefen in den verschiedenen Sektionen 33 Filme, die auf Material der Firma Kodak aufgenommen wurden, darunter auch etliche Gewinner, etwa Sean Bakers »Anora«, der die Goldene Palme bekam, oder »Grand Tour«, dessen Regisseur Miguel Gomes für die beste Regie geehrt wurde. Auch der Film, für den Jesse Plemons als bester Schauspieler ausgezeichnet wurde, Yorgos Lanthimos' »Kinds of Kindness«, wurde auf Zelluloid gedreht. 

Apropos Kodak. 60 Filme sind im Jahr 2023 mit dem Material dieser Firma hergestellt worden. Man kann die Konjunktur von analogem Material auch am phönixhaften (Wieder-)Aufstieg der Firma ablesen, die im 19. Jahrhundert gegründet wurde und bis zur Digitalisierung der weltweit größte Hersteller von Kinofilm war. 2012 musste Eastman Kodak in Rochester Insolvenz anmelden, doch heute produziert das Unternehmen wieder rund um die Uhr Filme und hat Kopierwerke in den Pinewood Studios in London, in New York, Atlanta und Bombay neu eröffnet. Denn eine analoge Produktion braucht immer auch eine Infrastruktur, um die Filme zu entwickeln und der Produktion die dailies – Muster – zum Betrachten zu schicken. Diese Kopierwerke sind mit der Umstellung auf digitale Produktion weitgehend vom Erdboden verschwunden, im deutschsprachigen Raum arbeiten etwa noch Andec und Cinegrell in der Schweiz. Tilman Singer hat seine dailies bei einem Kopierwerk in Paris entwickeln lassen.

Und, wohlgemerkt: Die Verwendung analogen Materials bezieht sich ausschließlich auf die FilmAUFNAHME. Anschließend wird der Film eingescannt und das Material weiter bearbeitet, der Bildstand wird angeglichen, Farbkorrekturen werden ausgeführt und digitale Effekte eingebaut. Im Kino werden Filme heutzutage so gut wie ausschließlich digital vorgeführt, eine nicht mehr umzukehrende Entwicklung. Nur wenige Kinos in Deutschland können Filme noch analog projizieren – viele kommunale Kinos etwa oder auch einige gut aufgestellte Arthouse-Kinos.

Es waren keine künstlerischen Gründe, die zum Aus des Films auf Film geführt hatten. Der Zelluloidfilm war Mitte der nuller Jahre an keinem Ende angelangt, noch heute kann die Auflösung eines 35-mm-Films mit dem digitalen 4k mithalten. Es waren einzig und allein geschäftliche Erwägungen, die für die digitale Umstellung sprachen – wie bei allen anderen technischen Innovationen in der Filmgeschichte, wie Farbe, Ton und Breitwand, auch. Vor allem die Filmdistribution sollte preiswerter werden, die Massenstarts von Blockbustern mit Hunderten und Tausenden von 35-mm-Kopien waren kostenintensiv – im Unterschied zu wiederverwendbaren DCPs (Digital Cinema Packages, transportablen Festplatten), mit denen heute die digitalen Projektoren gespeist werden. Die Standards dafür, wie etwa die Pixelzählweise, wurden festgelegt von der Digital Cinema Initiative, die aus den US-Studios Disney, Fox, MGM, Paramount, Sony, Universal und Warner bestand. Die Umstellung auf digitale Distribution legte auch den Grundstein für den Boom von Streamingportalen wie Netflix oder Amazon Prime. 

Sicher, nach Jahrzehnten digitaler Aufnahmetechnik können Kameras wie die Arri Alexa, die RED oder die Viper den Look von 35 mm annähernd imitieren, im Unterschied zur Anfangszeit in den nuller Jahren, als man selbst als Laie einen digital gedrehten Film an seinen deutlicheren Konturen und einem Übermaß an Tiefenschärfe erkennen konnte. Aber 100 Jahre Drehen auf analogem Material haben auch unsere Vorstellungen davon, wie ein Filmbild auszusehen hat, beeinflusst – schließlich sind analoge Klassiker abrufbar, via TV, ­Streaming oder im Kino. Man kann das Drehen auf Zelluloid nicht als eine Marotte alter weißer Männer und Ewiggestriger abtun – es sind immer künstlerische Gründe, die Regisseure und Kameraleute zu Zelluloid greifen lassen. Manchen scheint das digitale Bild, das durch ein festes Bildraster erzeugt wird und nicht durch die Unregelmäßigkeit lichtempfindlicher Silberhalogenidkristalle, immer noch zu scharf, anderen sagt das Farbspektrum eines bestimmten Filmtyps mehr zu; manche schwören darauf, dass Film in den dunklen Partien durchzeichneter ist als eine digitalen Aufnahme; andere mögen es, dass Filmmaterial auch mal einen kleinen Fehler haben kann.

Oft kommt analoges Material bei Filmen zum Einsatz, die in einer Zeit spielen, als noch auf Film gedreht wurde. Für »Killers of the Flower Moon« (2023) haben sich Martin Scorsese und sein Kameramann Rodrigo Prieto (mit dem Scorsese auch schon beim ebenfalls analog aufgenommenen »The Irishman« zusammenarbeitete) mit frühen Farbverfahren für die Fotografie beschäftigt, etwa dem Autochrome-Verfahren der Gebrüder Lumière, einem Farbumkehrverfahren, das von 1907 bis 1933 auf dem Markt war. Andere Referenzverfahren, die sie studierten, waren Photochrome, mit dem man aus schwarz-weißen Negativen farbige Drucke herstellen konnte, und das berühmte Technicolor, das ja als Zweifarbsystem begann. Die nachgestellten Wochenschau-Aufnahmen drehten sie mit einer 1917 gebauten Bell-&-Howell-Kamera aus dem Besitz von Scorsese. »Für mich«, sagt Pietro, »besitzen Negativfilm und seine Kopie eine natürliche Farbigkeit – deshalb haben wir uns entschieden, hauptsächlich auf Kinofilm zu drehen, der meiner Meinung nach eine stärkere Farbtiefe hat.« 

Am Set von »Once Upon a Time in Hollywood« (2019). © Sony Pictures

Der Look von Technicolor (»Glorious Technicolor«, wie der Werbespruch lautete) mit seinen reichen und gesättigten Farben war auch der Ausgangspunkt der Farbstrategie von »Once Upon a Time... in Hollywood« (2019) von Quentin Tarantino; verwendet wurde in der Hauptsache Kodak-Negativfilm. Kameramann Robert Richardson zieht überhaupt analoges Filmmaterial der digitalen Aufnahme vor, weil es zum Beispiel die menschliche Haut besser abbilde. »Diese Weichheit lässt sich nur schwer mit digitalen Kameras herstellen«, sagt Richardson.

Quentin Tarantino gehört zu den Regisseuren, die ausschließlich auf Film drehen. Genau wie Christopher Nolan, dessen »Oppenheimer« (2023) – gewissermaßen das analoge Prestigeprojekt der letzten Jahre – Kameramann Hoyte van Hoytema im 65-mm-IMAX-Format aufgenommen hat, für das Kodak sogar ein spezielles Schwarz-Weiß-Format entwickelte. Es war die vierte Zusammenarbeit zwischen Nolan und van Hoytema, nach »Interstellar« (2014), »Dunkirk« (2017) und »Tenet« (2020). Bei der Biografie des Wissenschaftlers, unter dessen Regie die erste Atombombe entwickelt wurde, kam es den beiden vor allem auf die immersive Qualität des breiten Aufnahmeformats an. »Die Großformatfotografie schafft Schärfe und versetzt das Publikum in die Realität, die wir für es erschaffen«, sagt Hoytema. 

Am Set von »Oppenheimer« (2023). © Universal Studios

Es ist aber nicht nur der Wunsch der Filmemacher, die Zuschauer in ihre Illusion der Realität hineinzuziehen, sondern auch eine für unsere Augen leicht verfremdete Sicht der Welt zu zeigen. Ziemlich in Mode gekommen ist der Ektachrome-Film von Kodak, ein Umkehr-, also Diafilm, mit ­extrem feinem Korn und einer ultrabrillanten Farbwiedergabe. Kodak hat die Produktion des Films, der Anfang der 1940er Jahre auf den Markt kam, im Jahr 2012 eingestellt, aber im Jahr 2018 wieder aufgenommen. Den Trend angestoßen hatte die für ihren Look berühmte US-Serie »Euphoria«, deren zweite Staffel (ab 2022), in der übrigens Hunter Schafer mitwirkte, fast komplett in Ektachrome gedreht wurde. Yorgos Lanthimos und sein Kameramann Robbie Ryan haben das Material für ausgewählte Szenen in »Poor Things« (2023) verwendet, etwa für die Szenen am Meer, die mit einer riesengroßen LED-Wand im Studio gedreht wurden. Auch die HBO-Serie »Winning Time: The Rise of the Lakers Dynasty« (2022/23) über das berühmte Basketballteam sollte so aussehen, wie wir Ektachrome erinnern, dessen Look besonders die 1960er und -70er Jahre geprägt hat; in dieser Serie kamen aber auch Super 35, Super 16 und 8 mm zum Einsatz – die Verwendung von 8mm ist übrigens um das Vierhundertfache angestiegen. 

Die Ektachrome-Ästhetik heraufbeschwören wollten auch Todd Haynes und Kameramann Ed Lachman in der Miniserie »Mildred Pierce« (2011) und dem Kinofilm »Carol« (2015). Sie wollten das Leben so zeigen, wie es in den Arbeiten von Fotojournalistinnen dokumentiert ist, die damals oft mit Ektachrome-Umkehrfilm gearbeitet haben. »Wir wollten das Gefühl erzeugen, als würde jemand seine Vergangenheit betrachten, indem er durch ein Fotoalbum blättert«, sagt Lachman. 

Das Comeback der analogen Filmaufnahme ist mehr als nur ein vorübergehender Hype. Wie überhaupt die analogen Techniken ihre Wiederauferstehung feiern. Gerade junge Menschen, die mit digitalen Geräten groß geworden sind, scheinen das dumpfe Knacken zu lieben, das entsteht, wenn sich die Plattenspielernadel in eine Vinylschallplatte drückt: Der Umsatz mit Vinylschallplatten wächst kontinuierlich seit 2007, übrigens parallel zum Audiostreaming. Seit 2010 hat er sich mehr als verzehnfacht, von 12 Millionen im Jahr 2010 auf rund 140 Millionen Im Jahr 2023. Die analoge Fotografie ist wieder in Mode, und auf Kindergeburtstagen und Festen werden Polaroid- oder Instax-(das Fuji-Pendant-)Fotos gemacht. Jens Meurer hat mit »An Impossible Project« (2020) einen wunderbaren Film über die Rettung von Polaroid durch den analogbesessenen Florian Kaps gemacht (natürlich in 35 mm). Und Indie-Bands lassen ihre Alben, in kleinen Auflagen, auch als Musikkassette erscheinen. 

Natürlich findet das alles in einer Nische statt – der Anteil von Vinyl am Markt der Musikverkäufe liegt bei unter zehn Prozent. In einer solchen Nische wird auch das Zelluloid bleiben, aber wegzudenken ist es nicht mehr. Denn analoger Film, so Ed Lachman, »hat eine fast anthropomorphe Qualität, weil das Bild ›lebendig‹ ist. Silberhalogenkristalle sind mikroskopisch klein und unsichtbar, aber ihre völlig zufällige, unendliche Variation zwischen den Bildern erzeugt ein ›Atmen‹, eine Energie, die für das Publikum sogar unbewusst wahrnehmbar ist.«

Die auf Kodakmaterial gedrehten Filme der letzten Jahre findet man hier. Für diesen Artikel wurden die letzten Jahrgänge der Fachzeit­schriften »Film- und TV-Kamera« und »American Cinematographer« durchgesehen.

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