»Alle die du bist«: Lieben & Arbeiten

»Alle die Du bist« (2024). © Port-au-Prince

»Alle die Du bist« (2024). © Port-au-Prince

Eine zärtlich-verrückte Beziehungs­geschichte unter den rauchenden Schloten des Kohlereviers . . . Vielleicht hätte Fassbinder so was machen können. Im aktuellen deutschen Kino wirkt »Alle die Du bist« wie ein kleines Juwel, funkelnd und einzigartig. Eine Begegnung mit dem Regisseur und Autor Michael Fetter Nathansky und der Hauptdarstellerin Aenne Schwarz

Den Dreh- und Angelpunkt von Fetter Nathanskys gefeiertem Debüt »Sag du es mir« fängt die Kamera von Leander Ott gleich zu Beginn in einer Panoramaaufnahme ein. Im Hintergrund Plattenbautürme, ein großes Gewässer, Bäume am Ufer und an den beiden Enden der Eisenbahnbrücke, auf der sich ein Unglück in Ameisengröße ereignet. Da wird jemand von der Brücke ins Wasser geschubst, der Täter flieht.

Wer ist der Täter? Dieser Frage nimmt sich Fetter Nathansky in einem klugen kleinen Lehrstück unzuverlässigen Erzählens an: drei Episoden, drei Menschen, drei Perspektiven, durch die die Geschichte immer eine neue Richtung bekommt. 

Kann es eine Wahrheit oder so etwas wie Objektivität überhaupt geben? Eine Frage, die durch Fake News und Verschwörungstheorien neue Facetten dazugewonnen hat. Am Ende des Films, nach viel narrativem Glatteis, gibt es so etwas wie ein zusammenhängendes Bild der Ereignisse. Für seinen Abschlussfilm an der Filmuniversität Babelsberg war Fetter Nathansky für den First Steps Award nominiert. Auf dem Festival des Deutschen Films in Ludwigshafen gewann er 2019 den Hauptpreis, beim Achtung Berlin Festival 2020 wurde er für das beste Drehbuch ausgezeichnet.

Natürlich ist sein Spiel mit der Subjektivität, dieses sich multiperspektivisch einer wie auch immer gearteten filmischen Wahrheit annähernde Erzählen, nichts Neues, sondern geistert seit Akira Kurosawas Klassiker »Rashomon – Das Lustwäldchen« von 1950 als Rashomon-Effekt durch die Literatur und Rezensionen. Nur bringt Fetter Nathansky – und damit ist ein Kern seines Kinos benannt – komplexe narrative Strukturen und philosophischen Tiefgang mit der Arbeitergesellschaft zusammen. Sein Krimi spielt in Plattenbautürmen, und seine bodenständigen Figuren berlinern. Auch sein zweiter Film, »Alle die Du bist«, ist im Arbeitermilieu angesiedelt. 

Er spiele mit Absurditäten in einer Alltäglichkeit, erzählt der Regisseur beim Interview. Wir treffen uns am Vormittag nach der Weltpremiere von »Alle die Du bist« in der Sektion Panorama der Berlinale in einem Presseraum im Grand-Hyatt-Hotel am Potsdamer Platz. »Oft wird von der Arbeiterklasse entweder total romantisierend oder in einem Mitleidsmodus erzählt«, stellt Fetter Nathansky fest. Er aber wolle komplexe zwischenmenschliche Lebensfragen, wie sie etwa ein Woody Allen in der High Society oder bei den Gutbürgerlichen verortet habe, auch im proletarischen Milieu erzählen. 

Während wir auf die Hauptdarstellerin Aenne Schwarz warten, der die Berliner Verkehrsbetriebe dazwischengekommen sind, sprechen wir über seinen eigenen Hintergrund, aus dem er viel für seine Drehbücher zieht. »Viele Figuren, die ich erzähle, speisen sich aus meinen Kindheitserinnerungen«, so der 1993 in Köln geborene Regisseur. Er selbst liebe es, Fußball zu spielen, und habe durch die Auswärtsspiele in seiner Jugend die Liebe für das Rheinland entdeckt.

Das Rheinland: Flachland, viele Felder und kleine Örtchen und Städtchen. Dazwischen große Städte, die einen rustikalen, manchmal auch (post-)industriellen Charme haben und alles andere als im klassischen Sinne pittoresk sind. Industrie gehört im und am Rande des Rheinlands zur Kultur dazu. Die Fabrikareale mit ihren noch oder nicht mehr rauchenden Schloten sind manchmal so groß wie Flughäfen.

Die Milieus und Sprachen variierten während seiner Sozialisation, denn Fetter Nathansky wuchs in Deutschland und Spanien auf. Die mediterranen Landschaften haben ihn ebenso fasziniert wie die gigantischen Kraftwerke im Kölner Umland. Das Abitur absolvierte er an einem Erzbischöflichen Gymnasium in Köln, bevor er von 2013 bis 2021 Regie an der Filmuniversität Babelsberg studierte. 

Zum Filmemachen, erzählt der Regisseur, sei er über das Imitieren gekommen. Schon als Kind habe er Menschen aus seinem Umfeld nachgeahmt und sich für sie Dialoge in einer bestimmten Mundart ausgedacht. »Deswegen ist Dialekt immer sehr wichtig für mich gewesen.« Das Milieu sei zentral, vor allem auch die Sprachen. »Ich kann nichts auf Hochdeutsch schreiben. Über den Dialekt komme ich meinen Figuren beim Schreiben viel näher.« Man glaubt ihm aufs Wort, auch weil er einen leichten rheinischen Zungenschlag behalten hat.

Bereits sein im Bachelor-Studium entstandener Kurzfilm »Gabi« war auf der Berlinale zu sehen und gewann 2017 den Deutschen Kurzfilmpreis in der Kategorie »Spielfilme von mehr als 10 Minuten bis 30 Minuten«. Darin erzählte Fetter Nathansky von einer Fliesenlegermeisterin, die mit ihrem Azubi in den Pausen sein geplantes Mit-der-Freundin-Schlussmachen übt. Ein »Ausreißer« in Fetter Nathanskys bisheriger Arbeit ist »The Ordinaries« (2022), das Debüt seiner Lebensgefährtin Sophie Linnenbaum, an dessen Drehbuch Fetter Nathansky mitwirkte. Allerdings: Um gesellschaftliche Klassen geht es auch dort, denn der Film zeichnet eine fantastische Welt mit einer Dreiklassengesellschaft aus »Hauptfiguren«, »Nebenfiguren« und »Outtakes«. 

»Alle die Du bist« schließlich handelt von einem leisen Abschied. Nadine (Aenne Schwarz) und der impulsive Paul (Carlo Ljubek) lernen sich als Fa­brikarbeiter im Rheinischen Braunkohlerevier kennen, doch nach Jahren als Paar hat sie sich von ihrem Partner entfernt. Zwischen Vergangenheit und Gegenwart oszillierend, zeigt der Film eine pragmatische Frau, die ihre Beziehung und die kleine Familie zusammenzuhalten versucht und die sich, als Rationalisierungsmaßnahmen den Fabrikstandort gefährden, auch für die Kolleginnen und Kollegen starkmacht. 

Mit »Alle die Du bist« knüpft der Regisseur in einigen Aspekten an sein Debüt an. Auch hier erzählt er in Zeitsprüngen und eröffnet verschiedene Perspektiven. Letzteres buchstäblich, denn seine Nadine sieht ihren Mann Paul, je nachdem, in welchem emotionalen Aggregatzustand er sich befindet, in Gestalt verschiedener Persönlichkeiten: während einer Panikattacke als Tier, kurz darauf als Kind (Sammy Schrein), auch als jungen Mann (Youness Aabbaz) oder ältere Frau (Jule Nebel-Linnenbaum). Man könnte es magischen Subjektivismus nennen, denn nur Nadine sieht Paul vielgestaltig. »Ich habe immer meine Varianten. In meinem Debüt sind es drei Varianten einer Wahrheit, hier mehrere Varianten von einem Menschen. Beide Male spiegeln diese Varianten den Blick der jeweiligen Hauptfigur wider«, so Fetter Nathansky.

Ein Leitmotiv des Films ist Wandel: der Wandel einer Liebe über die Jahre und der industrielle Strukturwandel als Folge von politischen und gesellschaftlichen Veränderungen. »Ich habe nach zwei Dingen gesucht, über die sich Nadine definiert: Du bist, was du liebst, und du bist, was du arbeitest. Und wenn beides auf einmal infrage gestellt wird, wer bist du dann eigentlich noch?« fragt der Regisseur. 

Mit Aenne Schwarz hat er eine Hauptdarstellerin gefunden, die  flexibel und differenziert auf ihre vielen Gegenüber reagieren kann. »Wir mussten«, erzählt die Schauspielerin, nachdem sie angekommen ist und einen Espresso mit Zucker bestellt hat, »gegenüber den verschiedenen Identitäten von Paul immer wieder neu herausfinden, wer wir sind und wie wir das miteinander spielen können.« Die große Aufgabe für ihre Rolle sei es gewesen, Nadines Eigenheiten an einer inneren Perlenkette aufzureihen, um ihren Kern in die je neue Konstellation mitzunehmen. 

Schwarz, 1983 im baden-württembergischen Filderstadt geboren, arbeitet in Theater, Film und Hörfunk. Sie war auf verschiedenen Bühnen zu sehen, spielte bereits während ihres Schauspielstudiums an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin am Deutschen Theater, war Gast am Schauspielhaus Stuttgart, am Thalia Theater Hamburg und am Deutschen Schauspielhaus Hamburg und festes Ensemblemitglied des Maxim Gorki Theaters und des Wiener Burgtheaters. Im Kino war sie zuletzt in Christoph Hochhäuslers Großstadtthriller »Bis ans Ende der Nacht« und in Daniel Rakete Siegels und Denis Moschittos Gangsterballade »Schock« zu sehen. Mehrfach ausgezeichnet wurde sie für ihre Hauptrolle als Vergewaltigungsopfer in Eva Trobischs »Alles ist gut«. 

Wie der Regisseur auf die Schauspielerin gekommen ist? »Ich habe Aenne abends in Jan Bonnys Fernsehfilm »Wir wären andere Menschen« gesehen, war sofort begeistert und wollte seitdem unbedingt mal mit ihr arbeiten«, erzählt Fetter Nathansky. »Ich spiele in dem Film eine Kellnerin, die Tochter von einem Polizei-Dude« ergänzt Schwarz lächelnd und erinnert sich an die »tolle« schriftliche Anfrage des Regisseurs. »Du hast gesagt, dass das, was ich mache, einen ganz eigenen Ton hat. Und ich dachte, nachdem ich dein Drehbuch gelesen habe, dass ich das zurückgeben kann, weil es auch einen ganz eigenen Ton hat«. Der Film kippe nie in ein reines Sozialdrama und könne genau dadurch etwas wagen, für etwas stehen.  

»Alles ist gut« (2018). © NFP

»Alle die Du bist« verbindet Sozialrealismus mit Poesie. Poesie durch die Gestaltenwandlung Pauls, aber auch durch den Modus zwischen Humor und Melancholie. Die Sprache habe, so Schwarz, nicht durchweg das Ziel, absolute Authentizität zu suggerieren, sondern sei ein Stück weit enthoben. »Und das gibt diesen Figuren eine Würde, sie haben ihre eigene Welt.« Nadine und Paul mit all ihren Macken können sich viel geben, sie sind in ihrer Beziehung zwischen Kindern und Arbeit füreinander da. »Aber genau darin steckt für mich die Traurigkeit: dass sich dennoch etwas selbst auflösen kann, obwohl die beiden ein super Team sind«, meint der Regisseur. 

Der Ton von »Alle die Du bist« ist, da möchte man Schwarz zustimmen, eigen. Fetter Nathansky verhandelt spielerisch komplexe humanistische und existenzielle Fragen vor dem Hintergrund einer zarten Liebesgeschichte und eines Milieuporträts. Alles ist in ständiger Bewegung, und wollte man aus seinem Film eine Erkenntnis für unsere Gegenwart mitnehmen, in der notwendige Transformationen von Grabenkämpfen orchestriert werden, so wäre es die Empathie als Verbindendes. Anstatt sich abzuwenden, geht Nadine auf die Menschen zu, auf Paul und ihre Arbeitskollegen, immer wieder. Klar kann nicht alles »repariert« werden, da ist »Alle die Du bist« alles andere als naiv, aber Gesprächsversuche und Diskurs sind ein Anfang.

Meinung zum Thema

Kommentare

Eine Filmbeschreibung, wo der zweite Hauptdarsteller so gut wie nicht erwähnt wird. Schade, dabei spielt Carlo Ljubek sehr gut.

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