Berlinale: Meditation über die Liebe
Das war nicht unbedingt zu erwarten gewesen: »Dreams (Sex Love)« des Norwegers Dag Johan Haugerud hat den Goldenen Bären der 75. Berlinale gewonnen. Ein Film, den bei den Vorab-Prognosen kaum jemand auf dem Zettel hatte. »Dreams« ist Teil einer Trilogie, die im Frühjahr unter dem Übertitel »Oslo Stories« in die deutschen Kinos kommt. Erzählt wird die Geschichte der 17-jährigen Johanne (Ella Øverbye), die sich in ihre Lehrerin verliebt und Liebeskummer, Sehnsüchte und Fantasien in einem literarischen Tagebuch festhält, auf das schließlich ihre Mutter und Großmutter stoßen. Der Film sei eine Meditation über die Liebe und vereine klare Beobachtung, kluge Kamera und perfekte Perfomance erklärte Jurypräsident Todd Haynes in seiner Laudatio. Neben dem Goldenen Bären erhielt »Dreams« auch den von internationalen Kritikern vergebenen FIPRESCI-Preis und den Gilde Filmpreis vom Verband AG Kino.
Keinen Preis bekam der von einigen als Favorit gehandelte Dokumentarfilm »Timestamps«. Regisseurin Kateryna Hornostaj hat für den Film unterschiedliche Schulen in der Ukraine besucht und den Alltag der Kinder und Jugendliche inmitten des Ausnahmezustands festgehalten. Auch wenn »Timestamps« rein filmisch nicht unbedingt innovativ ist, die teils zerstörten Klassenräume zu sehen und zu erleben, wie die Schüler routinemäßig bei Luftalarm in den Schutzraum gehen, beschäftigt einen beim Zuschauen nachhaltig.
Ein weiterer Kritikerliebling war der brasilianische Film »The Blue Trail«, der eine Dystopie entwirft, in der alle Menschen ab einem Alter von 75 Jahren in eine Kolonie verfrachtet werden. Ein Schicksal, dem Protagonistin Tereza (Denise Weinberg) zu entkommen versucht. Gekonnt pendelt der Film zwischen sozialkritischem Realismus und wunderschönen, meditativen Bildern des Amazonas. Dafür gab es einen Silbernen Bären (Großer Preis der Jury) und den Preis der Ökumenischen Jury.
Dominiert wurde der diesjährige Wettbewerb vor allem von kleinen Filmen mit spannenden erzählerischen und ästhetischen Ansätzen, von denen jedoch wenige wirklich herausstachen. Nicht selten gingen die Meinungen stark auseinander. Dies war beispielsweise bei »The Ice Tower« von Lucile Hadžihalilović der Fall, in der eine 16-jährige aus einem Waisenhaus in den Bergen ausbricht, Unterschlupf in einem Filmstudio findet und sich zu der Hauptfigur, der Schneekönigin, hingezogen fühlt. Während einige den Film für fehlende dramaturgische Prägnanz kritisierten, lobten andere die visuelle Gestaltung mit magisch-eisigen Winterbildern. Bei der Gala gab es letztendlich einem Silbernen Bären für eine herausragende künstlerische Leistung.
Relativ einig dürfte man sich beim Preis für die beste darstellerische Leistung sein, den die Australierin Rose Byrne entgegennehmen durfte. Sie brilliert in »If I Had Legs I'd Kick You« als Mutter am Rande des Nervenzusammenbruchs und setzte sich damit unter anderem gegen Ethan Hawke durch, der in »Blue Moon« den Songwriter Lorenz Hart spielt. Anstelle von Hawke wurde dessen Spielpartner Andrew Scott für die beste darstellerische Leistung in einer Nebenrolle geehrt. Weitere Silberne Bären gingen an den argentinischen Film »The Message« (Preis der Jury), den chinesischen Beitrag »Living the Land« (Beste Regie) und »Kontinental 25« von Radu Jude (Bestes Drehbuch).
Ein weiterer Film mit besonderem politischem Hintergrund war die Dokumentation »Holding Liat«, die in der Sektion Forum lief und den Dokumentarfilmpreis der Berlinale erhielt. Brandon Kramer begleitet in »Holding Liat« die Familie der israelischen Friedensaktivistin Liat Beinin Atzili, die am 7. Oktober 2023 von der islamistischen Terrororganisation Hamas entführt wurde. Viele hätten davon abgeraten, eine solche Geschichte zu erzählen, weil sie nicht in eine einfache Kategorie passe, erklärte der Regisseur. Doch genau aus diesem Grund müsse sie erzählt werden. Nach den auch auf dieser Berlinale wieder in den Fokus geratenen Kontroversen um Israel-feindliche Positionen ist die Ehrung für »Holding Liat« auch ein Zeichen, dass die Berlinale sich nicht einseitig, sondern auf vielfältige Weise mit den Konflikten im Nahen Osten auseinandersetzt.
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