Berlinale: Und der Goldene Bär geht an...
Mit einer Bilanz kann die neue Berlinale-Leiterin Tricia Tuttle jedenfalls zufrieden sein: Trotz Schneesturm zu Beginn, eisigem Wetter zwischendurch und einem Streik des öffentlichen Nahverkehrs am Ende wurden mehr Tickets verkauft als 2023: ein Plus von mindestens 15.000 Stück schon nach der Hälfte des Festivals. Für Berlin, das anders als die großen Schwestern Cannes und Venedig ein Publikumsfestival ist und weit mehr als nur cinephile Besucher anzieht, sind solche Zahlen immens wichtig.
Aus der Steigerung kann Tuttle Ermutigung und Bestärkung beziehen für ihr neues Konzept, das im Großen und Ganzen aufging. Mit Timothée Chalamet, Jacob Elordi und Robert Pattinson bot diese 75. Berlinale dazu gleich drei Stars mit ausgesprochen jugendlichen Coolness-Faktor, was dem Festival in seinem Jubiläumsjahr besonders gut zu Gesicht stand. Und wären diese Drei, oder auch nur einer von ihnen, auch noch am Rennen um den Goldenen Bären beteiligt gewesen und nicht nur zu Premieren ihrer Filme, dann wäre vor Begeisterung wahrscheinlich kein Halten mehr.
Aber leider entpuppte sich der eigentliche Wettbewerb vor der Preisgala am Samstagabend als Schwachstelle dieses Jahrgangs. Zwar gab es unter den 19 Filmen, über die die Jury unter Vorsitz des amerikanischen Regisseurs Todd Haynes nun entscheidet, einige schöne Filme. Die Ukrainerin Kateryna Gornostai berührte mit ihrem Dokumentarfilm »Timestamp« über Lehrer und Schüler, über Weiterleben und Weiterlernen für die Zukunft in Zeiten des Kriegs. Der Deutsche Frédéric Hambalek sorgte mit seiner Eltern-Kind-Farce »Was Marielle weiß« für eine willkommene Dosis an Humor. Die Österreicherin Johanna Moder beschrieb in dem subtilen Horrorfilm »Mother's Baby« eindrucksvoll eine Kindbettdepression.
Dennoch fehlte es dem Wettbewerb an wirklichen Höhepunkten. Weder Mary Bronstein, die in »If I Had Legs I'd Kick You« mit einer sensationellen Rose Byrne in der Hauptrolle von Essstörung und einer Mutter am Rande des Nervenzusammenbruchs erzählt, noch Richard Linklater, der in »Blue Moon« mit Ethan Hawke den an seiner Alkoholsucht zugrunde gehenden Broadway-Texter Lorenz Hart lebendig werden lässt, konnten das Fehlen wirklicher Höhepunkte ausgleichen.
So gab es nur einen Film, über den tatsächlich noch Tage nach seiner Premiere geredet wurde: »The Blue Trail« (O ultimo azul) von Gabriel Mascaro. Darin schildert der brasilianische Regisseur eine Gesellschaft der nahen Zukunft: Die 77-jährige Tereza (eine grandiose Denise Weinberg) ist stolz darauf, noch gut allein zurechtzukommen, als ein staatliches Dekret sie unter Vormundschaft ihrer Tochter stellt, ihr sämtliche finanzielle Mittel entzieht und ihren Umzug in eine ominöse »Kolonie« anordnet. Zuerst möchte Tereza sich nur noch einen letzten Wunsch erfüllen: ein Mal in einem Flugzeug fliegen. Doch je mehr Hindernisse man ihr in den Weg stellt, desto lebendiger wird der Widerspruchsgeist in der älteren Frau, die den wahren Geschmack der Freiheit entdeckt.
Rätselhaft, tragisch und komisch zugleich überrascht und unterhält »The Blue Trail«, ohne eine Botschaft aufdrängen zu wollen. Der Film gilt als die Entdeckung des diesjährigen Festivals und als wohl heißester Favorit sowohl auf den Goldenen Bären als auch auf den Preis für die beste Hauptdarstellerin, wobei sich die Jury entscheiden muss: Eine Dopplung dieser Kategorien ist nicht möglich.
Ethan Hawke wäre ein idealer Kandidat für den Preis als bester Darsteller, genauso wie Richard Linklater ein Kandidat als bester Regisseur wäre – eine Ehre, die er allerdings 2014 mit »Boyhood«, schon einmal bekommen hat. Ebenfalls preiswürdig entweder für Regie oder für einen der Jury-Preise wären Mary Bronstein (»If I had Legs...«), Johanna Moder (»Mother's Baby«) oder die Französin Lucile Hadzihalilovic, die mit »The Ice Tower« das Publikum in enthusiastische Fans und abgeschreckte Verächter spaltete.
Da in Berlin das Politische immer eine große Rolle spielt, wäre gut vorstellbar, dass bei der Bärenverleihung die Filme berücksichtigt werden, die am stärksten zum aktuellen Zeitgeist passen. Wie der mexikanische Regisseur Michel Franco, der in seinem Drama »Dreams« das Verhältnis zwischen den USA und Mexiko, zwischen Geld und Macht, illegale Migration und Ohnmacht auf ein intimes Drama herunterbricht. Unbedingt verdient hätte eine Auszeichnung die ukrainische Regisseurin Kateryna Gornostai, die in ihrer Doku »Timestamp« ein herzzerreißendes Porträt ihrer von Russland überfallenen Heimat zeigt. »Timestamp« zeigt lauter Menschen, die darum ringen, ihre Humanität zu bewahren in Zeiten, in denen ständige Gefahr und tragische Verluste das fast unmöglich machen.
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