Kritik zu Das Mädchen mit der Nadel

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Magnus von Horn schildert den Fall der bekanntesten Serienmörderin Dänemarks im Kontext eines tragischen Frauenschicksals im ärmlichen Kopenhagen nach dem Ersten Weltkrieg 

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Nicht umsonst steht die Nadel so prominent im Titel dieses Films. Karoline arbeitet wie Hunderte anderer Näherinnen auch in einer großen Fabrik an einer Nähmaschine, und der Vorarbeiter herrscht sie an, dass sie nicht abbrechen soll. Es ist die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in Kopenhagen, geprägt von großer Armut. Karolines Ehemann, der wie viele Männer im heutigen Süddänemark in die kaiserlich-deutsche Armee gepresst wurde, ist noch immer nicht zurückgekehrt. Karolines Leben gleicht einer provisorischen Existenz, sie wird aus ihrem Zimmer geworfen, weil sie die Miete nicht bezahlen kann. Und einen Witwenzuschlag bekommt sie auch nicht, wie ihr der freundliche Firmenbesitzer erklärt, weil sie keine Sterbeurkunde vorweisen kann. Stattdessen geht sie eine Liaison mit ihm ein und erwartet ein Kind.

Der polnische Kameramann Michal Dymek hat »Das Mädchen mit der Nadel« beeindruckend in einem kontrastreichen Hell-Dunkel in Schwarz-Weiß gedreht, in klaustrophobisch wirkenden Interieurs und auf matschigen Straßen. Die Außenaufnahmen entstanden in Polen, wo der schwedische Regisseur Magnus von Horn lebt. Das Schwarz-Weiß gibt dem Film eine düstere Atmosphäre und spiegelt Karolines Stimmungslage zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Und es erinnert gerade in den Innenaufnahmen an spätexpressionistische Filme der zwanziger Jahre wie Leopold Jessners »Hintertreppe«, besonders als Karolines wieder aufgetauchter, im Gesicht entstellter Ehemann, der eine Ledermaske trägt, im Treppenaufgang in die Kamera blickt.  

Als Karolines Liaison an der Mutter des Fabrikbesitzers scheitert, versucht sie, das Kind abzutreiben, mit einer Stricknadel im öffentlichen Bad. Sie wird von Dagmar gerettet, die so etwas wie eine illegale Adop­tionsagentur betreibt und Karoline zum Austragen bewegt. Der reale Fall der Dagmar Overby, die Geld von den Müttern nahm, die ihr die Kinder zur Adoption gaben, aber die Kinder umbrachte, ist in Dänemark sehr bekannt, Overby ist die berühmteste Serienmörderin des Landes. Der Kunstgriff des Drehbuchs von Line Langebek Knudsen, Overby aus der Perspektive einer anderen Frau zu zeigen (und sie auch sehr spät im Film auftreten zu lassen), gehört zu den großen Stärken des Films. Er steigert sich nochmals in der zweiten Hälfte – in einer verzweifelten, im wahrsten Sinne des Wortes toxischen Beziehung der beiden Frauen, hervorragend und einfühlsam dargestellt von Vic Carmen Sonne als Karoline und Trine Dyrholm als Dagmar. 

Der Titel des Films spielt, so könnte man meinen, auf Aki Kaurismäkis Film »Das Mädchen aus der Streichholzfabrik« und auf die Silvestergeschichte »Das Mädchen mit den Schwefelhölzern« von Hans Christian Andersen an. Und zwischen diesen beiden Polen bewegt sich auch »Das Mädchen mit der Nadel«: einem harten, düsteren Sozial­drama und einer überhöhten Komponente, die mitunter an ein Schauermärchen erinnert. Auf beiden Ebenen bewahrt sich der Film sein Herz für die, die ganz unten auf der sozialen Leiter stehen.

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