Interview: Magnus von Horn über »Das Mädchen mit der Nadel«

Magnus von Horn © Nicolas Villegas

Magnus von Horn © Nicolas Villegas

Im Presseheft Ihres Films ist zu lesen, dies sei der kontroverseste Mordfall in der dänischen Kriminalgeschichte. Wie weit ist der heute in Dänemark noch bekannt?

In Dänemark weiß jeder, wer diese Frau ist. Sind Sie kein Däne, ist das eher nicht der Fall. Dieses Verbrechen wurde zu einer Art nationalem Trauma und hat die Geschichte ein Stück weit verändert. Ich nehme an, andere Länder haben vergleichbare Fälle. Was dieses Verbrechen so traumatisch macht, abgesehen von der Brutalität, ist die Tatsache, dass die Gesellschaft die Augen davor verschlossen hat und es geschehen lies.

Meinen Sie damit, dass die Gesetzgebung hinsichtlich der Abtreibung sich dadurch geändert hat?

Nein, jedenfalls nicht damals. Aber daraufhin wurden persönliche Identifikationsnummern für jeden Bürger eingeführt. Da das vorher nicht der Fall war, konnte man einfach verschwinden und das blieb unentdeckt.

War das denn in der Vergangenheit bereits ein Thema für Bücher oder Filme?

Bücher gab es einige, aber – soweit ich weiß – bislang keinen Film darüber. Was mich doch überrascht hat. Jetzt bin ich, ein Schwede, der in Polen lebt und polnischer Staatsbürger ist, der erste, der einen Film über dieses dänische Trauma macht. Das kommt ja manchmal vor, dass erst jemand von außen kommen muss, um etwas ins Bewusstsein zu rücken. Denn wenn man sein ganzes Leben immer wieder davon gehört hat, sieht man oft den Wald vor lauter Bäumen nicht. Zusammen mit all den Polen, die an diesem Film mitgearbeitet haben, besitze ich eine gesunde Ignoranz, die immer gut ist für kreative Arbeit.

Der Film besitzt einen ausgefeilten Stil, beginnend mit den Köpfen ganz zu Beginn, die dann zu einem einzigen Gesicht verschmelzen. Das Erinnerte mich an »Das Cabinet des Dr. Caligari«. Wollten Sie einen Film im Stil des deutschen Expressionismus drehen?

Ja, der hat uns inspiriert. Denn diese Filme wurden zur selben Zeit gedreht, in der unser Film spielt. So war es ein Element, das wir benutzen wollten, um die Zuschauer auf eine Zeitreise mitzunehmen. Es passte einfach, weil es Bilder heraufbeschwor, die diese Zeit im kollektiven Bewusstsein repräsentieren. Dieses analoge Element schlug sich auch in unserer Arbeit nieder, beispielsweise bei den Miniaturen, die wir bauten..

Aber gedreht haben Sie schon digital?

Ja.

Mir gefiel besonders die Einstellung, wenn die Protagonistin den Kinderwagen durch die Straßen schiebt und die Kamera hoch oben in der Luft verharrt – ich musste an Murnaus »Nosferatu« denken, wo der Vampir seinen Sarg durch die Straßen trägt. Sie haben in einem Interview erwähnt, dass die Figur von Trine Dyrholm inspiriert worden sei von der Figur, die Willem Dafoe in Robert Eggers' Film »Der Leuchtturm« verkörpert. Interessanterweise drehte dieser Regisseur ja dann einen »Nosferatu«-Film.

Ich dachte dabei auch an »Shadow of the Vampire«, in dem Dafoe den »Nosferatu«-Darsteller Max Schreck verkörperte. Die Ästhetik dieser Filme mit ihren langen Schatten und harten Kontrasten imponiert mir sehr, unser Film sollte auch ein visuelles Spektakel sein.

Darf man den Zirkus am Ende als Hommage an Tod Brownings Filmklassiker »Freaks« sehen?

»Freaks«, »The Elephant Man« – genauso verweisen wir auch auf »Die Arbeiter verlassen die Fabrik« von den Gebrüdern Lumiere, das mögen viele Zuschauer nicht bewusst wahrnehmen, aber ich glaube, sie fühlen es in ihrem Unterbewusstsein.

Es gab im Nachspann keinen Hinweis darauf, welchen Film die beiden Frauen sich im Kino anschauen. Ist das ein Film, der ein ähnliches Referenzsystem vorstellt?

Dabei handelt es sich um einen Film mit Asta Nielsen, »Towards the light«. Asta Nielsen ist ebenfalls eine wichtige Referenz, weil sie eine große Persönlichkeit des Kinos war. Ich bemerkte auch einige Ähnlichkeiten im Aussehen zwischen ihr und Vic Carmen Sonne, der Darstellerin der Karoline. Zudem haben wir uns angeschaut, welche Filme in diesem Monat in Kopenhagen herauskamen.

Sie nehmen auch eine Droge zu sich, etwas, das sie inhalieren...

Ja, das ist Äther. Und Naphta – obwohl das meines Wissens niemand überleben könnte. Aber im Prozess hat Dagmar ausgesagt, es gäbe vieles, an das sie sich nicht mehr erinnern könne, weil sie high von Äther oder aber betrunken war. Da erwähnte sie ebenfalls, dass sie Naphta, also Lampenöl, getrunken hätte, worauf der Staatsanwalt sagte, das sei unmöglich. Sie erwiderte: »Bringen Sie mir eine Flasche und ich beweise es Ihnen.«

Gegen Ende des Prozesse klagt Dagmar die Gesellschaft an, basiert das auf den Prozessakten?

Nicht wörtlich, aber sinngemäß. Dies ist kein Biopic, aber der Prozess war damals ein Sensationsprozess, der viele Neugierige anzog.

Im Gespräch nach der gestrigen Filmvorführung wurden Sie nach dem Happy End gefragt und sprachen daraufhin von Märchen. Das erinnerte mich an das, was einen Tag zuvor Joshua Oppenheimer über seinen Film »The End« gesagt hat, dass dieser ohne die Gesangseinlagen eine trockene Geschichtsstunde gewesen wäre.

Eine Inspiration für meinen Film war »Friedhof der Kuscheltiere« von Stephen King – in dem Sinn, dass es um unsere Unfähigkeit geht, loszulassen, Liebe zu geben und zu akzeptieren, dass diese nie zurückgegeben wird. Das verpackt er in eine Horrorgeschichte mit übernatürlichen Elementen – genau das ist für mich die Kunst des Geschichtenerzählens. Etwas, das einem am Herzen liegt oder eine Geschichtsstunde, die man teilen will, oder auch etwas Wichtiges in der Weltgeschichte: man muss es verpacken, damit das Publikum bereit ist, sich das anzusehen.

War das Happy End von Anfang an da?

Ja. Hätte ich den Film vor zehn Jahren gedreht, wäre das nicht der Fall gewesen. Jetzt bin ich Vater – wenn Sie meinen ersten Film anschauen, hatte der ein ähnliches Ende. Jetzt brauchte ich diese Schlussszene.

Sie haben erwähnt, als dieses Projekt an Sie herangetragen wurde, wussten sie gleich, dass Sie kein Biopic über Dagmar machen wollten...

Und ich wollte ebenso wenig eine Serienmörderin zum Mittelpunkt meines Filmes machen. Ich brauchte eine Figur, zu der ich eine Beziehung entwickeln kann, von der aus ich eine Verbindung zu Dagmar herstellen kann, zu dem Bösen, das uns fasziniert. Ein Flirt mit dem Teufel ist einfacher als sich auf Liebe einzulassen, denn Liebe hat einen höheren Preis. Ich glaube, es ist auch einfacher, bei Dagmar zu bleiben, wenn sie in ihrer Wohnung high ist – einfacher als hinauszugehen und ein Kind zu adoptieren.

Konnten Sie Ihren Film auf Schwarzweißmaterial drehen oder wurden die Farben im Nachhinein herausgenommen?

Sie wurden herausgenommen, denn wir hatten eine Reihe von Spezialeffekten und wenn man mit Greeenscreen arbeitet, ist das einfacher. Ich habe den Film nie in Farbe gesehen, denn wir haben die Farben schon auf den Monitoren herausgenommen. Wir hätten ein größeres Budget bekommen, wenn wir den Film in Farbe gedreht hätten, aber das wollte ich nicht, abgesehen davon hätte es auch Probleme mit einigen der Kostüme gegeben. Eine historische Glaubwürdigkeit war mir wichtig.

Zu den Spezialeffekten gehören auch die schmalen Gassen der Stadt?

Nein, die sind echt; wir haben den ganzen Film in Polen gedreht, wo es noch Kleinstädte mit solchen Straßen gibt.

Wie sind Sie als Schwede nach Polen gekommen?

Ich kam dort vor zwanzig Jahren hin, um an der Filmschule zu studieren, wo ich heute unterrichte. Meine Frau ist Polin, wir haben zwei Kinder, seit einem Jahr bin ich selber polnischer Staatsbürger und mein ganzes kreatives Team kommt von dort her.

Hatten Sie mit Ihren Filmen je Probleme mit der früheren konservativen Regierung?

Nein, dafür war die Gegenbewegung zu stark; ich weiß natürlich, dass Agnieszka Holland Probleme hatte, aber auch viel Unterstützung.

Haben Sie staatliche Gelder für diesen Film bekommen – angesichts der Tatsache, dass Abtreibung in Polen verboten ist?

Die staatliche Kontrolle wirkt sich eher auf das Fernsehen als auf das Kino aus, Fernsehen ist außerhalb der Großstädte wichtiger. Ich habe nie mit dem staatlichen Fernsehen gesprochen, als es von der PIS kontrolliert wurde. Als dieser Film beim Festival von Danzig mehrere Auszeichnungen gewonnen hat, war das etwas anderes.

»Das Mädchen mit der Nadel« ist seit 24.1. auf MUBI verfügbar und läuft noch in den Kinos. Er ist auf der Shortlist für den Oscar als bester internationaler Film.

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