Kritik zu Haltlos

© Carma Comet Films

Kida Khodr Ramadan wirft in seinem mittlerweile fünften Film einen einfühlsamen Blick auf eine Frau, die ungewollt schwanger wird

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In der Familie, unter Freunden, im Beruf, im Nachtleben: Lilith Stangenberg ist in diesem Film die absolute Verkörperung seines Titels, schlingernd, strauchelnd, irrlichternd, auf einem sehr schmalen Grat zwischen schmerzlicher Selbstzerstörung und brüchiger Verletzlichkeit, zwischen nerviger Überspanntheit und berührender Durchlässigkeit. Solche Figuren sind über die Jahre das Spezialgebiet von Lilith Stangenberg geworden, von der jungen Frau, die sich 2016 in Nicolette Krebitz’ »Wild« auf eine Art Liebesgeschichte mit einem Wolf einlässt, bis zur rauschhaft daueralkoholisierten Schwester auf dem Seelenseziertisch in Matthias Glasners Familienporträt »Sterben«.

Man ahnt, dass das Leben dieser Frau schon immer ein Drahtseilakt war, doch jetzt ist Martha schwanger, und das sehr fragile Gleichgewicht kippt endgültig aus der Balance. Der Vater des Kindes ist ein verheirateter Mann, ihr Verhältnis eine Affäre, leicht und sorglos sollten ihre Begegnungen sein, und nun das: schwanger. Ganz entschieden bekundet sie, das Kind zur Adoption freigeben zu wollen, sucht einen Adoptionsanwalt auf, leitet das Verfahren ein. Doch schwingt in dieser Entscheidung ein bisschen Trotz mit? Kurzschlusspanik? Selbsterhaltungstrieb? Egoismus? Die Hoffnung, dass der Mann protestiert? Und wie sieht es aus, wenn man das Kind geboren hat und es in den Armen hält, wovon der Anwalt dringend abrät, doch dann reicht die Hebamme (Jasmin Tabatabai) reflexartig das Kind, ohne in die Akte zu schauen. All diesen widersprüchlichen Gefühlen einer Frau und Mutter spürt dieser Film in einer Intensität nach, die ihn zu einer emotionalen Achterbahnfahrt macht.

Alles in allem ist das nicht unbedingt die Art von Geschichte, die man mit Kida Khodr Ramadan in Verbindung bringt, mit dem kernig libanesischen Machismo, den er als Neuköllner Pate in der Miniserie »4 Blocks« so grandios verkörperte. Wie er sich hier, basierend auf einem Drehbuch von Antje Schall, hingebungsvoll auf eine so zerbrechliche wie anstrengende Frau einlässt, ihr einen ganzen Film widmet, ihr viel Freiraum zur Entfaltung bereitet, das ist überraschend und faszinierend. Beide haben sich spürbar mit Haut und Haar auf diese Geschichte eingelassen, ihn habe das Thema auch mit Blick auf seine fünf Töchter interessiert, sagt Kida Khodr Ramadan, und im Grunde sei der Film in Co-Regie entstanden, sie hätten sich »künstlerisch vermählt«, bekundet Lilith Stangenberg.

Wenn es um Frauen und Kinder geht, ob sie nun gewollt werden, oder nicht, immer mischen sich alle ein. Die Schwester (Zsá Zsá Inci Bürkle), die Mutter (Jeanette Hain), der biologische Vater (Samuel Schneider), die Freunde, die Arbeitskollegen, alle haben etwas zu sagen, und immer im Tonfall der übergriffigen Absolutheit. Das war schon in Karoline Herfurths »Einfach mal was Schönes« so, wo der gesellschaftliche Diskurs um Weiblichkeit und Mutterschaft ein bisschen massentauglicher unterhaltsam aufgeschlüsselt wurde. In »Haltlos« ist es dagegen eine existenzielle Tour de Force, eine vielschichtige one woman show, die ganz nah und subjektiv an Martha und ihren widerstreitenden Gefühlen bleibt.

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