Nahaufnahme von Lilith Stangenberg
»Sterben« (2024). © Jakub Bejnarowicz / Port au Prince / Schwarzweiss / Senator
Wenn sie im Bild ist, muss man hinschauen. Denn Lilith Stangenberg entfesselt immer ein Spektakel – im Film und auf der Bühne
»Ich bin ein Mann, mit allem dran, was man(n) so ausmacht«, singt Victoria. Dabei lehnt sie sich mit einem leicht spöttischen Lächeln und einem koketten Blick lässig und lasziv an einen schwarzen Flügel. Es ist ein Spiel widersprüchlicher Zeichen. Der schwarze Anzug, das elegante weiße Hemd, die Hosenträger und die schwarze, recht groß gemusterte Krawatte wirken fast wie eine Parodie auf die Attribute klassischer bürgerlicher Männlichkeit im Wirtschaftswunder-Deutschland der späten 1950er. Der passende schwarze Hut liegt neben ihr auf dem Flügel. So kommt ihre adrette und zugleich kecke schwarze Kurzhaarfrisur, natürlich eine Perücke, perfekt zur Geltung. Eine Perücke, die Weiblichkeit signalisiert und damit alle eindeutigen Zuschreibungen unterläuft. »Ich bin ein Mann, und doch auch eine Frau«, scheint Victoria zu verkünden. Oder wie es in ihrem Kabarett-Song heißt: »Und auch wenn du mich auslachst, / bin ich nur 'ne süße kleine Laune der Natur.«
Victoria ist eigentlich nur eine Nebenfigur in »Der Staat gegen Fritz Bauer« (2015), Lars Kraumes bitterem Porträt der Nachkriegs-BRD. Eine Schachfigur im Spiel der ehemaligen Nazis, die immer noch in den Staatsanwaltschaften und den Geheimdiensten, in den Gerichten und bei der Polizei an den Hebeln der Macht sitzen. Ihre Liebe zu einem wegen seiner Homosexualität inhaftierten ehemaligen Medizinstudenten nutzt der BKA-Beamte Paul Gebhardt, um Fritz Bauers Vertrautem Karl Angermann eine Falle zu stellen, eine Falle, in der sich letzten Endes der hessische Generalstaatsanwalt Bauer selbst verfangen soll.
Doch Lilith Stangenberg macht viel mehr aus der Nachtclub-Sängerin und Prostituierten Victoria. In den vier Szenen dieses Politthrillers, in denen sie auftritt, taucht sie die äußerlich heile, innerlich aber noch komplett zerstörte Welt der ausgehenden 50er in glamouröses Zwielicht. Sie ist zweifellos eine der faszinierendsten Film-noir-Figuren, die das deutsche Kino hervorgebracht hat. Eine Femme fatale, die in Wahrheit einfach ein Mensch zwischen den Geschlechtern ist. Eine Verlorene, die während ihrer Nachtclub-Auftritte all den anderen Verlorenen, die ständig durch den Paragrafen 175 und die Polizei bedroht sind, einen Weg weist und zeigt, was es heißt, schlicht man selbst zu sein.
Etwas beinahe Revolutionäres liegt in Stangenbergs Nachtclub-Auftritten und ihrem rauchigen Sprechgesang. Für Momente scheint eine ganz andere Welt auf, eine Welt, die einen die Enge des scheinheiligen Wirtschaftswunder-Idylls vergessen lässt. Dieses subversive Element, das die Zwänge der Wirklichkeit und die Beschränkungen, denen unser Leben Tag für Tag ausgesetzt ist, unbeirrt aushebelt, ist so etwas wie ein Markenzeichen von Lilith Stangenbergs Spiel. Ihre ersten Schauspielerfahrungen hat die im August 1988 in Berlin geborene Stangenberg im P14 Jugendtheater der Volksbühne Berlin gemacht. Im Prater, der Nebenspielstätte der seinerzeit von Frank Castorf geleiteten Volksbühne, hatte sie 2007 in Robert Lehnigers Adaption von Matias Faldbakkens Roman »Macht und Rebel« ihr Bühnendebüt.
Es ist der Geist der Volksbühne, deren Ensemble Lilith Stangenberg von 2012 bis 2016 angehörte und in der sie bis heute immer wieder auf der großen Bühne steht, der letztlich in all ihren Theater- und Filmauftritten lebendig wird. Ein Geist, der geprägt wurde durch die exzessiven Inszenierungen Frank Castorfs, die schwebend leichten Diskurskomödien René Polleschs und die heiter-melancholischen musikalischen Abende Christoph Marthalers. Das Leichte und das Schwere, das Spielerische und das Widerständige, in Stangenbergs Kunst gehören sie immer zusammen. Ebenso wie einst an Frank Castorfs Volksbühne lassen sie sich in ihren Auftritten nie trennen.
Erst im Zusammenspiel der eben nur scheinbaren Widersprüche ergibt sich ein angemessenes Bild unserer Existenz. Und zu diesem Bild gehört auch, die Extreme der menschlichen Natur auszuloten, wie etwa in ihren von Liliana Cavanis Film »Der Nachtportier« (1974) inspirierten Arbeiten mit dem US-amerikanischen Künstler Paul McCarthy. Diese unter Titeln wie »A&E / Adolf & Eva / Adam & Eve« und »NV / Night Vater / Vienna« am Deutschen Schauspielhaus Hamburg und am Volkstheater Wien aufgeführten Performances waren auf der einen Seite pubertäre Provokationen, in denen sich gefakte Körperflüssigkeiten und Exkremente über die Bühne ergossen. Auf der anderen Seite sind sie fast zärtliche, zutiefst poetische Darstellungen der zerstörerischen Abhängigkeiten und der Gewaltverhältnisse, die menschliche Beziehungen, vor allem Liebesbeziehungen, durchdringen können.
Jedes Mal, wenn Lilith Stangenberg an Grenzen oder über sie hinaus geht, erinnert sie einen mit aller Wucht daran, dass es zwar kein richtiges Leben im falschen geben kann, aber dass man deswegen noch längst nicht das falsche Leben akzeptieren muss. Das gilt für ihre überbordenden Bühnenperformances mit so radikalen Künstlern wie Paul McCarthy und Jonathan Meese genauso wie für ihre Darstellung der jungen Frau, die in Nicolette Krebitz' »Wild« (2016) die Zivilisation und alles, was sie in unserem Alltag ausmacht, hinter sich lässt.
Bisher hat Ania ein ganz und gar unscheinbares Leben geführt. Ihre Tage verbringt sie in ihrer schmucklosen kleinen Wohnung in einem Plattenbau in Halle-Neustadt und in einem Büro, in dem sie als IT-Spezialistin arbeitet. Letztlich wirkt diese junge Frau mit der grauen Windjacke und dem leicht verträumten Blick, der sich auf irgendetwas jenseits ihrer tristen Alltagsrealität zu richten scheint, fast unsichtbar. Genau das schätzt auch Anias Chef so an ihr. Doch all das ändert sich, als sie auf einem ihrer Wege zwischen Wohnung und Büro in einem Park einem Wolf begegnet. Der kurze Blick, den sie und das Tier tauschen, lässt sie nicht los. Sie setzt alles daran, den Wolf zu fangen und in ihre Wohnung zu bringen, was ihr schließlich auch gelingt. Fortan lebt sie mit ihm zusammen und legt nach und nach die Fesseln der Zivilisation ab.
In der radikalsten Szene in »Wild«, einer irritierenden und zugleich befreienden Traumsequenz, steht der Wolf zwischen Anias Schenkeln und leckt ihr Menstruationsblut auf. Die Schauspielerin und ihre Regisseurin gehen in diesem unvergesslichen Moment bis zum Äußersten, und doch hat dieses Bild nichts von einer Provokation. Stangenberg und Krebitz spielen Anias Ausbruch aus den Konventionen des Lebens in der westlichen Zivilisation nur in aller Konsequenz und letztlich auch in aller Unschuld durch.
Im Spiel auf der Bühne und vor der Kamera gibt es für Lilith Stangenberg allem Anschein nach kaum Grenzen. Sie geht vollkommen in ihren Rollen auf. Vor allem im Theater scheint sie sich immer wieder in eine Art von Rausch zu spielen, der etwas komplett Entgrenztes hat. Im Verhältnis dazu wirken ihre Filmauftritte geradezu kontrolliert und manchmal, wie in Thomas Stubers »Die stillen Trabanten« (2022), sogar fast streng in ihrer Zurückhaltung. Dennoch prägt ihre Arbeiten in Film und Fernsehen die gleiche Kompromisslosigkeit, die jede ihrer Bühnenrollen zu einem ganz eigenen Erlebnis für das Publikum macht. Allerdings zeigt sich diese Kompromisslosigkeit vor allem in der Auswahl der Filme, die sie dreht. Auf den ersten Blick verbindet Produktionen wie Christoph Hochhäuslers »Die Lügen der Sieger« (2014), Michael Kliers »Idioten der Familie« (2018), Alexander Kluges und Khavns »Orphea«, Julian Radlmaiers »Blutsauger« und Robert Schwentkes »Seneca« praktisch nichts. Dennoch haben sie etwas gemeinsam. Ihre Regisseure haben eine extrem klare künstlerische Vision, die diese Filme, selbst wenn sie sich wie »Seneca« zunächst nach einem konventionellen Starvehikel oder wie »Idioten der Familie« nach einem klassischen deutschen »Problemfilm« anhören, zu sehr persönlichen Kunstwerken machen. Kunstwerken, in denen Lilith Stangenberg die Freiheiten hat und nutzt, die ihr Spiel braucht.
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