Kritik zu Wild
Eine Frau und ein Wolf: In ihrem dritten abendfüllenden Spielfilm greift Nicolette Krebitz das alte Motiv von der Attraktion des Animalischen auf und macht daraus mehr als ein modernes Märchen
»Ich hab 'n Wolf gesehen, im Park«, sagt die junge Frau auf seltsam teilnahmslose Weise. Aus der monotonen Stimme, mit der sie diese lapidare Bemerkung macht, lässt sich nicht herauslesen, welche fundamentalen Konsequenzen diese Begegnung für sie haben wird. Und doch ist es Liebe auf den ersten Blick, eine alles verzehrende Amour fou, bedingungslos und unberechenbar, jedenfalls von Anias Seite. Der Wolf mag sie eher als Stalkerin betrachten, die ihm in seinem Revier auflauert und ihn eines Tages im Lieferwagen entführt und verschleppt. Wie die junge Frau in Lenny Abrahamsons »Room« wird auch der Wolf aus seinem Lebensumfeld gerissen und in einen Raum gesperrt, er kann mit seinen animalischen Kräften aber immerhin die weißen Wände mit Klauen zerkratzen, Einrichtungsgegenstände mit den Reißern zermalmen und Mauern mit der Wucht seines Körpers zum Wanken bringen.
Schon in ihrer zweiten Regiearbeit »Das Herz ist ein dunkler Wald« schürte die Schauspielerin Nicolette Krebitz die beunruhigenden Kräfte des deutschen Waldes. Nina Hoss flüchtete sich dorthin, verlor sich darin, als ihr geordnetes Leben im Einfamilienhaus aus dem Ruder lief. Die Übergänge zwischen steriler Zivilisation und ungebändigter Natur beschäftigen Krebitz nun auch in »Wild«. Die düsteren Kräfte des Waldes entwickeln einen ebenso beunruhigenden wie erlösenden Sog, werden zur Alternative zum eintönigen Leben in einer namenlosen Stadt, das Ania in ihrer kargen Wohnung und ihrem öden Bürojob führt. Auf bizarre Weise ist »Wild« auch ein Coming-of-Age, die Geschichte einer Aussteigerin, die ihren Platz findet. »Ein paar Wochen noch, und Sie sind wieder ganz die Alte«, sagt ihr Chef (Georg Friedrich), der die zunehmende Verwahrlosung und Verwilderung seiner Angestellten in einer Mischung aus Faszination und Fürsorge beobachtet: »Ich will aber gar nicht mehr so sein, wie ich war!«, sagt sie einmal und: »Ich hab jemanden kennengelernt.« – »Und was macht der so?«, hakt der Chef nach: »Nichts außer gut aussehen.« Sie redet über den Wolf wie über einen Liebhaber, und Lilith Stangenberg wagt einiges in diesem langsamen Erwachen aus dem Dornröschenschlaf, in der Überschreitung der Grenzen zwschen Menschlichem und Animalischem, Zivilisation und Wildnis. Im Film beginnt ihre Wohnung zwischen Wolfsbau und Liebesnest zu oszillieren.
Wie jede Liebe eröffnet auch diese eine neue Perspektive auf die Welt, immer häufiger reißen Anias apathische Züge auf, um rohen Instinkten Platz zu machen. Lilith Stangenberg macht diese verstörende Grenzüberschreitung zu einem Akt der Befreiung, der entfernt an »Das Biest« von Walerian Borowczyk erinnert. Auch da schlägt die natürliche Angst des Menschen vor der Bestie in erotisch aufgeladene Anziehungskraft um. Statt auf oberflächliche Schockelemente zu setzen, weckt Nicolette Krebitz zusammen mit Kameramann Reinhold Vorschneider und den elektronischen Klängen der Band Terranova in ihrer originellen Variation des Märchens von Rotkäppchen und dem bösen Wolf eine diffuse Unruhe, die noch lange nachwirkt.
Stream [arte bis 11.2.2021]
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