RegisseurInnen im deutschen Kino

Das Jahr der Frauen
»Grüße aus Fukushima« (2016). © Majestic Filmverleih

»Grüße aus Fukushima« (2016). © Majestic Filmverleih

Berlin, Cannes, die Oscars, Arthouse und Erzählkino: Es sind Regisseurinnen, die dem deutschen Kino aktuell die stärksten Impulse geben

Vor kaum zwei Jahren haben mehr als 300 Regisseurinnen gegen schleichende, meist unbewusste Ausgrenzungsmechanismen in den deutschen Produktionsstrukturen protestiert. Ihre Initiative Pro Quote Regie wies mit Zahlen und Fakten erstmals nach, was niemand wahrhaben wollte: Nur rund 15 Prozent der Produktionsmittel fließen in Deutschland den Projekten von Filmemacherinnen zu; unter den Fernsehformaten sind erstaunlich viele reine Männerdomänen, und nicht zuletzt können sich Frauen das Drehen mit großen Budgets von vornherein abschminken – man traut es ihnen einfach nicht zu.

Auch in der von Bettina Schoeller-Bouju und mir parallel zur Gründung von Pro Quote Regie 2014 herausgegebenen Anthologie »Wie haben Sie es gemacht?« reflektierten Filmfrauen ihre klippenreichen individuellen Karrierewege, ihre Erfahrungen mit hinderlichen Geschlechterzuschreibungen im Beruf und die allgemeine Schieflage. Feministin zu sein, sei in ihrer Generation eigentlich uncool, brachte Maren Ade das Dilemma auf den Punkt, aber dann sei ihr bei internationalen Festivals und Branchentreffen immer wieder aufgefallen, dass sie die einzige Frau unter lauter Regisseuren und Produzenten war.,

»Toni Erdmann« (2016). © NFP

Die Frage war, wie es so weit kommen konnte, dass zwar mehr als 40 Prozent Studierende der deutschen Filmhochschulen weiblich sind und ihre Abschlussfilme überdurchschnittlich viele Preise einfahren, danach jedoch nur selten der Aufbau einer kontinuierlichen Karriere möglich ist. Klar, auch Regisseure klagen zu Recht über die vom System in Kauf genommene fatale Konkurrenzsituation, aber dennoch ist seit 2014 unabweisbar, dass die Geschichten, visuellen Erzählformen und Perspektiven der einen Hälfte des Filmnachwuchses fahrlässig untergehen. Die Quote ist nicht annähernd durchgesetzt, aber die Diskussion über ihre möglichen Auswirkungen zieht Kreise wie ein ins Wasser geworfener Stein.

Und jetzt das! Der Kinoherbst erfüllt mit einer erstaunlichen Zahl erfolgreicher und anregender neuer Filme von Regisseurinnen die Hoffnungen auf andere, eigenwillige, nachwirkende Leinwandgeschichten. Nimmt man die Filme des ersten Halbjahres hinzu, zeigt sich eine Diversität der Themen und Ansätze, nicht zuletzt auch der Frauenbilder, die das Ressentiment erledigt, mehr Frauen auf dem Regiestuhl würden der Qualität des deutschen Kinos schaden.

Maren Ades »Toni Erdmann« war der Lieblingsfilm der Kritiker in Cannes. Und diesen Zuspruch konnte die Tragikomödie in den deutschen Kinos in Zuschauerzahlen weit über 100 000 verwandeln, was nicht einmal den Gewinnern der Goldenen Palme immer gelingt. Und schließlich geht »Toni Erdmann« ins Rennen um den Oscar für den besten fremdsprachigen Film.

»Vor der Morgenröte« (2016). © X-Verleih

»Vor der Morgenröte«, Maria Schraders eindringliche Visualisierung einiger Kapitel aus den letzten Exiljahren des österreichischen Schriftstellers Stefan Zweig in Amerika, erreichte mit seiner konsequent aufs Wesentliche reduzierten Bildsprache wider die planen Identifikationsmuster gängiger Historienfilme ebenfalls ein großes Kinopublikum und vertritt Österreich im Wettbewerb um den Auslands-Oscar.

Ähnlich hohe Aufmerksamkeit im internationalen Rahmen bekam Anne Zohra Berracheds Psychodrama »24 Wochen«, das im Wettbewerb der Berlinale Premiere feierte und über seinen Kinostart hinaus für Diskussionen über das moralische Dilemma der Spätabtreibung sorgt.

Weitere Filme von deutschen und deutschsprachigen Regisseurinnen ragen in diesem Jahr aus dem Einerlei zeitgeistiger Beziehungsfilme heraus. So war das Publikum des Sundance Festivals im Frühjahr begeistert von Nicolette Krebitz' dystopischer Fluchtgeschichte »Wild«, die eine einsame Singlefrau in Halle-Neustadt aus der Zivilisation hinaus ins empathische Liebesgefängnis mit einem echten Wolf führt. 

»Wild« (2016). © NFP

Aslı Özge, eine in Berlin lebende türkische Regisseurin, die sich für die Abgründe sozialer Beziehungsgeflechte und –zwänge interessiert, folgt in »Auf einmal« mit der formalen Eleganz eines Film noir der Verstrickung eines jungen Wohlstandsbürgers, der in Verdacht gerät, die Verantwortung für den Tod einer jungen Frau zu tragen. 

Leonie Krippendorff tastet sich in »Looping«, ihrem Abschlussfilm für die Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg, an eine Dreierbeziehung unter Frauen verschiedener Altersstufen heran, die einander in der reglementierten Binnenwelt einer psychiatrischen Anstalt für eine kurze intensive Lebensepisode finden – eine eigenwillige Variante des häufig auftauchenden Topos Krankheit (die hier wie auch in Theresa von Eltz' Debüt »4 Könige« als sinnstiftende Krise und Residuum anarchischer Selbstbefreiung interpretiert wird). 

Die österreichische Filmemacherin Andrina Mračnikar, eine Schülerin von Michael Haneke, stellt in ihrem Debütfilm »Ma folie« die Frage nach dem bösen Zauberbann, den ein zum eifersüchtigen Stalker mutierter Geliebter mit perfiden, allzeit präsenten digitalen Botschaften anrichten kann. Mračnikars Protagonistin, als Psychologin verantwortlich für traumatisierte Kinder, gerät in diesem kammerspielartigen Thriller an die Grenzen ihrer Selbstwahrnehmung.

»Ma Folie« (2015). © W-film

Auch am anderen Ende des Spektrums, im Segment der deutschen Komödie, tauchen Frauen auf. Julia von Heinz landete mit ihrer Adaption von Hape Kerkelings Pilger-Autobiografie »Ich bin dann mal weg« einen nicht unerwarteten Erfolg im Unterhaltungs­kino – mit einem lädierten Helden, der einen durchaus selbstironischen Blick (Devid Striesow verkörpert Hape Kerkeling) auf seine eigene Männlichkeit hat, inmitten taffer Frauen, denen er auf den Prüfungen seines Pilgerwegs begegnet.

Ein mit noch mehr romantischem Zucker versetzter Unterhaltungsstoff ist Karoline Herfurths Komödie »SMS für dich«, die Verfilmung eines Bestsellers von Sofie Cramer, in dem eine junge Frau allmählich Abschied nimmt von ihrem verstorbenen Geliebten und sich einem neuen Mann zuwendet – dem zufälligen Empfänger der SMS-Botschaften, die sie an den Toten geschickt hatte. Als Schauspielerin hat die 32-jährige Herfurth seit ihren Kinderrollen im Fernsehen und in Hans-Christian Schmids Film Crazy quer durch alle Spielarten kleinerer und größerer deutscher Produktionen, zuletzt als Referendarin Lisi Schnabelstedt in Fack ju Göthe, kontinuierlich gearbeitet, so dass sie sich das Regiehandwerk by doing – oder watching? – aneignete. In Interviews spricht sie von Vorbildern wie Notting Hill oder E-mail für Dich. Riskant ist das Genreformat ihres Regiedebüts ebenso wenig wie Julia von Heinz' Ich bin dann mal weg. Die beiden Regisseurinnen arbeiten jedoch prononciert – und anders als unmittelbare Komödienvorbilder – mit Wirklichkeitssplittern, die den Wandel sozialer Beziehungen in ihre Drehbuchkonstruktionen aufnehmen: Es mischen sich Sidekicks – starke Frauen – in den Gefühlstumult der Hauptfiguren ein. Freundinnen, wie Nora Tschirner als Stichwortgeberin in »SMS für dich«, ersetzen und ergänzen den Plot auch in »Looping« und »Ma folie«, sie sind präsenter als die oft als instabil oder dysfunktional beschriebenen Familien im aktuellen Kino.

»Looping« (2016). © Salzgeber

Und dann gibt es noch die »etablierten« Regisseurinnen – auch die haben in diesem Jahr starke Film geliefert. Doris Dörrie ist mit ihrem aktuellen Schwarz-Weiß-Film »Grüße aus Fukushima« nach Japan zurückgekehrt. Wie in »Kirschblüten – Hanami« erzählt sie von einem harmonisch gewendeten culture clash, einem Erweckungserlebnis in der Begegnung von in sich verstrickten Deutschen mit der Klarheit, Strenge und unaufdringlichen Spiritualität Japans. In »Grüße aus Fukushima« laboriert eine scheiternde Clown-Darstellerin (Rosalie Thomass), die aus Deutschland in eines der Auffanglager für Opfer des Tsunamis und der Atomkatastrophe 2011 gekommen ist, an Selbstzweifeln. Bis sie einer einsamen Rückkehrerin (Kaori Momoi) bei den Aufräumarbeiten in ihrem zerstörten Haus zu helfen beginnt und der existenziellen Dimension der Katastrophe nahekommt.

Nicht zu vergessen auch Ulrike Ottingers zwölfstündige ­Kinoexpedition »Chamissos Schatten« auf den Spuren deutscher Naturforscher aus dem 19. Jahrhundert in die kaum bekannten Territorien Alaskas, der Aleuten-Inseln, der russischen Halbinsel Kamtschatka und nördlich angrenzender Gebiete. Elfi Mikesch gelang in diesem Jahr schließlich der Kinostart ihres Spielfilm »Fieber«, in dem sie mit den Augen ihres Alter Egos Franziska Erinnerungen an ihre österreichische Kindheit wachruft und die Geschichte ihrer Loslösung von den Kriegsbildern und Gewaltfantasien des Vaters erzählt, der nicht über seine Taten als Fremdenlegionär der französischen Kolonialarmee sprechen kann, aber die Tochter mit einem Berg kaum zu entschlüsselnder Fotografien konfrontiert. Alle drei Filme dieser gestandenen Repräsentantinnen des deutschen Kinos sprechen in einer unverwechselbar eigenständigen Formsprache große politische und kulturelle Katastrophen und deren langwirkenden Folgen an, ohne in die Argumentationszwänge plakativer Themenfilme zu verfallen.

»Fieber« (2014). © Barnsteiner Film

Haben wir es nun mit einer Welle zu tun? Steht das Kino-Jahr 2016 für einen Aufbruch der Filmemacherinnen? Bettina Schoeller-Bouju, die im Vorstand von Pro Quote Regie mitarbeitet, sieht mehr Kontinuität: »Talente und gute Filme von Frauen gab es auch vor Pro Quote Regie. Die Filme, die jetzt im Kino laufen, sind ja vorher schon entwickelt worden. Aber seit unserer Initiative hat sich das Verständnis dafür verändert. Es gibt eine Neugier auf die Filme von Frauen, eine andere Wahrnehmung und bessere Würdigung. Die Leute sind offen für das Besondere, ihre Art, die Welt zu sehen und davon zu erzählen.« Die Hoffnung der Initiatorinnen ist, dass sich die Erwartungen an ungewöhnliche, eigenwillige Filme aus der Sicht von Frauen verstetigt. Bettina Schoeller-Bouju: »Mit diesem kleinen Bonus an Vorschusslorbeeren, den wir jetzt erleben, ist schon etwas in Bewegung geraten. Die Zahlen belegen wieder einmal, dass bei den Produktionen von Regisseurinnen auch mehr Frauen beschäftigt sind und eine größere Spannbreite an Frauenfiguren entsteht.«

Tatsächlich stehen in den Filmen des Jahrgangs oft Frauen im Mittelpunkt. In »Toni Erdmann«, in »Looping«, »Ma folie«, »Fieber«, »Grüße aus Fukushima« und »24 Wochen« prägen weibliche Charaktere die Themen, Atmosphären und Rhythmen der Filme, sie agieren und reagieren in Geschichten, die über die bekannten Klischees und Rollenzuschreibungen hinausweisen. Den Bechdel-Test bestehen die meisten der neuen Filme mühelos.

»Auf Einmal« (2016). © MFA+ Filmdistribution

Maria Schraders biografische Hommage an den Schriftsteller Stefan Zweig schildert dessen Zerrissenheit zwischen dem Lebensentwurf eines Literaten, seinem aufgezwungenen Exil und den dringlichen Appellen seines Umfelds, alle diplomatischen und publizistischen Mittel für die von den Nazis Verfolgten einzusetzen. In sechs minimalistischen Episoden begleitet Schraders präzise den Moment inszenierende Erzählform die eskalierende Verzweiflung ihres Protagonisten, ohne ihrem Hauptdarsteller Josef Hader die Mechanismen kurzschlüssiger Identifikationsangebote aufzuzwingen.

Anders, aber ebenso eigenwillig die Inszenierung des männlichen Protagonisten in Aslı Özges »Auf einmal«. Ausgerechnet Altena, die von Wald umgebene gemütliche Kleinstadt im Sauerland, wird zur Falle für Karsten (Sebastian Hülk), einen jungen Bankangestellten, Ehemann und Mittelpunkt einer Clique alteingesessener Wohlstandskinder. Anstelle eines Stereotypenstücks mit Regionalkrimi-Flair erzählt Özge die Geschichte eines mysteriösen Todesfalls und seiner Konsequenzen als dunklen Thriller, als brüchige Beziehungsgeschichte und Sittenbild der Leistungsträgergeneration. »Soziale Systeme«, erläutert die Regisseurin, die mehrere Jahre an ihrem Projekt arbeitete, mir im Gespräch, »unterscheiden sich zwar von Land zu Land, aber mein Interesse gilt der Tatsache, dass wir als Individuen gedrängt werden, in die Normen unserer jeweiligen Gesellschaften zu passen. Ich habe mich ausführlich damit beschäftigt und recherchiert, wie ich das Umfeld meiner Geschichte in einer deutschen Kleinstadt möglichst genau erzählen kann, aber ihr Kern könnte überall so stattfinden.«

»24 Wochen« (2016). © Neue Visionen Filmverleih

Anne Zohra Berracheds »24 Wochen« ließe sich auf den ersten Blick als Themenfilm über ein existenzielles Frauenproblem charakterisieren. In unserem Interview ist sich die Regisseurin bewusst, dass ihr Film an die bislang kaum debattierten Konsequenzen der Pränataldiagnostik rührt. »24 Wochen« schildert die emotionale Achterbahnfahrt eines Paares, das ein schwerbehindertes Kind erwartet. Die Regisseurin: »Seit es die Pränataldiagnostik gibt, steigt die Zahl der späten Abtreibungen stetig stark an. Ich möchte, dass wir mehr Kinder bekommen, aber ich möchte auch, dass wir Menschen nicht verurteilen, die sich dagegen entscheiden. Die Fälle sind individuell so unterschiedlich, dass ich nach meinen Recherchen die gesetzlichen Voraussetzungen richtig finde. Der Arzt und die Eltern müssen gemeinsam entscheiden, in welche Richtung sie wollen.«

Berrached, eine ausgebildete Sozialpädagogin und Absolventin der Filmhochschule in Ludwigsburg, legt großen Wert auf die Augenhöhe zwischen ihren Hauptcharakteren Astrid und Markus (Julia Jentsch und Bjarne Mädel): »Ich wollte, dass mein Film das Gefühl vermittelt, dass dieses Paar sein behindertes Kind eigentlich bekommen könnte. Sie haben keine finanziellen Probleme, sie lieben sich, sind intelligent und haben schon ein Kind. Das sind die besten Voraussetzungen, und trotzdem schaffen sie es wie sehr viele Eltern nicht. Um diesen Konflikt geht es mir.«

Mit sicherem Gespür verschmilzt der Film fiktionale und dokumentarische Elemente. Anne Zohra Berrached über ihre Inszenierung: »Ich würde nie einen Dokumentarfilm über das Thema drehen. Schon die Recherchen waren sehr schwer. Es hat fast ein Jahr gedauert, ehe ich ein Paar treffen konnte, das kurz nach der Abtreibung mit mir reden mochte und dann die Drehbuchentwicklung begleitet hat. Diese Nähe war unser Glück. Ich habe dann bei den Dreharbeiten hart daran gearbeitet, dass die authentischen Laien, etwa die Ärzte, im Zusammenspiel mit Julia Jentsch und Bjarne Mädel so unmittelbar wie möglich sie selbst sein konnten.«

Berrached sieht sich, anders als Ade, Dörrie, Mikesch, Krebitz oder von Heinz, eher als Einzelkämpferin, die Abstand halten möchte zu den Initiativen von Pro Quote Regie. Gut läuft es seit der Berlinale. Ein »Tatort« ist in Planung, sogar mit dem Team, das sie seit ihrem Erstling »Zwei Mütter«, der Geschichte eines lesbischen Elternpaares, aufgebaut hat. Dennoch profitiert »24 Wochen« von der neuen Aufmerksamkeit für das Kino der Frauen. Vielleicht wird mehr als eine kurze Welle daraus. In diesem Jahr sprach die Filmförderungsanstalt zwölf Projekten eine Förderung zu, sechs davon sind Filme von Frauen, die wir im nächsten Jahr im Kino sehen werden.

Meinung zum Thema

Kommentare

Eine Entwicklung übrigens, die die Nominierungen für den „Deutschen Regiepreis” 2016 auch nicht im Ansatz widerspiegeln:

„Das Tagebuch der Anne Frank“ von Hans Steinbichler
„Die dunkle Seite des Mondes“ von Stephan Rick
„Er ist wieder da“ von David Wnendt

http://www.deutscher-regiepreis.de

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