Interview mit Maria Schrader
Fast zehn Jahre sind zwischen der ersten Regiearbeit von Maria Schrader und ihrem neuen Film verstrichen. Die Schauspielerin hat seit ihrem Durchbruch in den Neunzigern ja auch immer viel zu tun: Sie stand für Dani Levy, Doris Dörrie und Margarethe von Trotta, Lars Kraume und Jan Schomburg vor der Kamera; außerdem hat sie fast ein Dutzend Drehbücher mitverfasst. Jetzt kommt »Vor der Morgenröte« ins Kino – ein Film über die späten Jahre des vor den Nazis geflohenen Schriftstellers Stefan Zweig
Gibt es bei Ihnen eine persönliche Beziehung zum Werk von Stefan Zweig? Ein Leseerlebnis?
Ich bin Zweig erst begegnet, als ich erwachsen war, als ich schon mit Filmemachen zu tun hatte. Als Erstes las ich die Novelle »Reise in die Vergangenheit«. Da gibt es eine Szene, die mich in Gedanken über Jahre begleitet hat. Es ist eine Art »Königskinder-Geschichte«, in der sich das Schicksal zweier Liebender in dem Moment entscheidet, als sie ein Hotelzimmer betreten, in der offenen Tür stehen bleiben, das Zimmer betrachten, die Anordnung der Möbel, den Faltenwurf der Decke, den Aschenbecher, es passiert nichts, und es stockt einem der Atem. Eine Erzählung mit so einer Spannung aufzubauen, das wünscht man sich im Kino auch zu schaffen.
Aber den Ausschlag, »Vor der Morgenröte« zu machen, gab eher Zweigs Leben als seine Literatur: seine letzten Jahre, der Eindruck, dass seine Exilerfahrung in vielerlei Hinsicht besonders war, auch wenn er nicht unmittelbarer Verfolgung ausgesetzt war. Zweig beschreibt sich im Vorwort zu seiner Autobiografie »Die Welt von gestern« als einen Stellvertreter, der als Jude, Pazifist und überzeugter Europäer die Welt seiner Zeit in all ihren Bewegungen deutlicher wahrnehmen musste als »beispielsweise ein Schweizer Kaufmann«. Und ich glaube, etwas Ähnliches haben Jan Schomburg und ich mit diesem Drehbuch auch gemacht: einen Film über Exil am Beispiel von Stefan Zweig.
Zweig im Exil, das ist durchaus doppeldeutig. Seine Wohnung in Petropolis in Brasilien hat etwas Paradiesisches.
Genau dieser Gegensatz hat uns interessiert. Dieses Spannungsverhältnis ist so besonders extrem bei Zweig. Umgeben zu sein von exotischer Pracht, Papageien, Pflanzen, Regenwald, einer fast künstlichen Friedlichkeit in den Bergen von Petropolis, während Europa in Flammen steht, während man nicht weiß, welche Kollegen, welche Freunde noch am Leben sind und unter welchen Umständen – ich kann mir kaum etwas Einsameres vorstellen. Ich denke, dass Zweig mit seiner besonderen Sensibilität und Fantasie eben auch auf besondere Weise diesen Heimsuchungen ausgesetzt war, diesem Leben in zwei Welten. So gesehen ist auch er ein Opfer des Krieges und der Film auch ein Film über Europa, ohne dass er Europa zeigt.
Die erste visuelle Vorstellung, die ich für den Film hatte, war das Bild, wie Zweig vor dieser wuchernden tropischen Landschaft steht, verbindungslos, in Gedanken Tausende von Kilometern entfernt. Er erkennt die Schönheit und schaut doch irgendwie hindurch. Die Bilder, die ihn im Kopf verfolgen, entstehen vielleicht auch in der Fantasie des Zuschauers, ohne dass man sie filmt. Das schien mir eine mögliche Annäherung an das Thema Exil zu sein, gleichzeitig war es eine cineastische Herausforderung.
»Die Welt von gestern« ist ein bitteres Buch. Es sind die Erinnerungen eines Schriftstellers, dem, wie der Titel ja schon sagt, die Welt zusammengebrochen ist, dem der Boden unter den Füßen weggezogen wurde.
Ich würde es eher einen »virtuellen« Boden nennen, denn der Heimatbezug im geografischen Sinne hat für Zweig nicht wirklich existiert. Er plädierte für die Aufhebung nationalstaatlicher Grenzen, er träumte von einem vereinten Europa, das nicht von einem regionalen, sondern einem kulturellen und geistigen Heimatbegriff geprägt sein sollte. Die kosmopolitische Idee, er benutzte sogar den Begriff Staatenlosigkeit, war sein erklärtes Ideal. Jeder Mensch sollte ein Weltbürger sein. Eine Idee, die nur in einer offenen, friedlichen und humanistischen Welt verführerisch sein kann. Die grausame Umkehr dieses Ideals erlebte er, als er tatsächlich staatenlos wurde. Sein Traum wurde zum Fluch, darin zeigt sich vielleicht das besonders Tragische und Allegorische an Zweigs Exil.
Den großen Teil der »Welt von gestern« schrieb er im Frühjahr 1941. Unmittelbar vorher spielt unsere New-York-Episode, in der es um »privaten Heimatverlust« geht, die Begegnung mit seiner Exfrau Friderike. Ihr ist mit den beiden Töchtern die Flucht nach NYC gelungen, jetzt begegnet sie nach der Scheidung das erste Mal Zweigs neuer Frau Lotte. Es sind heutige Konflikte, die uns an Patchworkkonstellationen erinnern. Ich kann jede Perspektive, jede Unsicherheit und Wut nachvollziehen und bewundere, dass diese komplizierte Gruppe es geschafft hat, nach dieser Begegnung einige Wochen lang gemeinsam an Zweigs Erinnerungen und Aufzeichnungen zu arbeiten. Beide Frauen und sogar Friderikes Töchter waren dabei.
Kleine Fußnote: Es war mir ein Bedürfnis, Friderike Zweig anders zu zeichnen, als es die Biografen bisher getan haben. Die landläufige Erzählung von der beleidigten, missgünstigen verlassenen Ehefrau, die womöglich Briefe verschwinden ließ, ist in meinen Augen viel zu einfach. Es muss diese Begegnung, so wie wir sie schildern, gegeben haben, und sie zeugt von anhaltender Freundschaft und Großzügigkeit. Ich bin sehr glücklich, dass Barbara Sukowa ein so tolles und vielschichtiges Porträt von ihr zeichnet.
Sukowa verkörpert Friderike Zweig sehr geerdet.
Friderike war Gesellschaftsdame sowie selbstständige Autorin, weltgewandt und unabhängig. Sie hatte viel von dem, was Zweig Lebenstüchtigkeit nannte. Barbara Sukowa und Josef Hader vor der Kamera zu einem Paar oder Expaar zusammenzuführen, war schon in meiner Fantasie eine wilde und interessante Vorstellung. So verschieden, wie sie sind. Für beide musste ja ein Gegenüber auf Augenhöhe gefunden werden, damit man glauben kann, dass sie 20 Jahre lang eine zwar komplizierte, aber lebendige und inspirierende Ehe geführt haben. Und es war ein Glück, dass auch Josef und Barbara von dieser Idee begeistert waren.
Friderike taucht nur in einer Episode auf. Insgesamt besteht der Film aus vier Episoden, einem Prolog und einem Epilog, also aus sechs Teilen, sechs Geschichtsausschnitten. Man hätte ja die Exiljahre von Stefan Zweig auch als lineares Biopic inszenieren können. Sie haben aber diese episodische Struktur gewählt.
Die Idee dieser Struktur war eigentlich der Startschuss des Projekts. Je mehr wir über Zweig lasen, umso mehr wollten wir den Film machen, die Frage war nur, wie. Die Exilschicksale sind so von Zufällen bestimmt gewesen, wir wollten eine erzählerische Entsprechung finden. Und eine kräftige Form. Die episodische Struktur schließt die Lücke, den Zufall ein. Wir verabschieden uns von jeder Kausalität und wohnen ein paar Ereignissen aus Stefan Zweigs Leben bei, vier mal zwanzig Minuten Echtzeit, dokumentarisch, aber mit den Mitteln des Spielfilms. Wir dachten, wenn man das so genau und detailreich wie möglich macht, entsteht vielleicht auch die Fantasie für die unzähligen Momente, die wir weggelassen haben, und dafür, wie enorm komplex so ein Leben eben ist.
Wie ist denn eigentlich die Mischung zwischen historisch belegten Szenen und quasi erfundenen? Den PEN-Kongress der ersten Episode in Buenos Aires 1936 hat es wirklich gegeben, aber ich vermute mal, die zweite Episode im Dschungel in Brasilien ist erfunden.
Beim PEN-Kongress ist so gut wie alles belegt; in der Episode sind bis auf zwei Journalisten alle historische Personen. In der Bahia-Episode ist der junge Vitor d'Almeida, der Lotte und Stefan Zweig auf dieser Reise begleitete, ebenfalls eine historische Figur. Er war Journalist, schrieb sogar ein Buch über diese Reise. Sie sind 10 Tage in Bahia, im Norden Brasiliens, unterwegs gewesen, um für Zweigs Buch über Brasilien zu recherchieren und die Landwirtschaft des Landes, Zuckerrohranbau vor allem, kennenzulernen. Sie haben Plantagen besucht, mussten jeden Tag einen Empfang des regionalen Bürgermeisters über sich ergehen lassen. Unser konkreter Bürgermeister samt Entourage ist aber erfunden.
Eine andere Figur, an der man ganz gut die Mischung aus Realität und Fiktion beschreiben kann, ist der Journalist Joseph Brainin, gespielt von André Szymanski, der beim Kongress Stefan Zweig zu einer Äußerung gegen das Naziregime bewegen will. Den hat es tatsächlich gegeben, er hat im Winter 1935 ein Interview mit Zweig in New York geführt, Teile daraus haben wir verwendet. Ob Brainin in Buenos Aires war, konnte ich nicht herausfinden, es ist aber wahrscheinlich. Sein Anliegen, Zweig nicht gehen zu lassen, wenn er nicht eine druckreife Verurteilung des Hitlerregimes von ihm bekommt, stammt aus Brainins New Yorker Aufzeichnungen.
Auch das Bankett im »Jockey Club« von Rio de Janeiro, der Prolog des Films, hat stattgefunden. Davon gibt es Bilder. Es ist eine sehr lange, sehr ruhige, sehr statische Einstellung, bei der etwas vor der Kamera passiert und nicht mit der Kamera. Auf der anderen Seite ist das Gros des Films mit Handkamera gedreht.
Die Einstellungen von Prolog und Epilog habe ich mir schon beim Schreiben so vorgestellt. Es schien mir eine gute Möglichkeit zu sein, in die »Echtzeit«-Sequenzen zu führen. In der LEICA-Ausstellung der Hamburger Deichtorhallen war eine Filmaufnahme von wahrscheinlich 1918 oder 1919 zu sehen: Eine fest installierte Kamera auf einem Bahnsteig voller wartender Menschen, Züge mit Kriegsheimkehrern fuhren ein, man fiel sich in die Arme, verließ den Bahnsteig, die Kamera wurde im Vorbeigehen wahrgenommen – ein solches Wirklichkeitsgefühl wünschte ich mir für »Vor der Morgenröte«. Mit einer festen Kamera und ohne Schnitt stellt sich das zumindest bei mir am ehesten ein. Ich habe auch darüber nachgedacht, ob unsere Kamera nicht ebenfalls wahrgenommen und angespielt werden könnte, als hätte Zweig erlaubt, dass man ihn begleite. Ich gebe zu, die Form des Films hat mich ebenso gereizt wie der Inhalt. Und ich wollte wissen, ob ich das hinkriege, einen Saal voller Leute zu inszenieren, acht Minuten ohne Schnitt. Wir haben einen Tag lang geprobt und recht schnell gemerkt, dass es funktionieren kann. Am nächsten Tag haben wir gedreht. Der letzte Take ist es geworden. Beim Prolog wie beim Epilog.
Der Kameramann Wolfgang Thaler hat die Filme von Ulrich Seidl und Michael Glawogger fotografiert.
Und das sind ja durchaus zwei unterschiedliche Planeten. Wolfgang ist unfassbar flexibel. Er stellt sich auf alles ein und macht gleichzeitig nichts, was ihm nicht gefällt. Er ist geschmacklich so bombensicher und hat selbst den höchsten Anspruch an seine Bilder. Das gab mir die Freiheit, alles vorzuschlagen, was mir in den Sinn kam. Ich wünschte mir eine größtmögliche Lebendigkeit und Sinnlichkeit. Wolfgangs Handkamera ist ja sein Zauber: Sie lässt den Schauspielern alle Bewegungsfreiheit, und er folgt ihnen wie auf unsichtbaren Schienen, elegant und sanft. Ich habe das immer wieder von neuem bewundert. Er war ein Orientierungspunkt für das ganze Team, sicher auch für Josef, für den dieser Film ja in vielerlei Hinsicht etwas Neues und Abenteuerliches war.
Josef Hader ist im Film viel melancholischer als in seinen Kabarettprogrammen. Aber so zurückgenommen war er noch nie.
Gleichzeitig ist er das Kraftzentrum des Films. Von dem Moment an, da sein Name fiel, hatte ich eigentlich nur noch die Sorge, dass er nicht zusagen könnte. Er ist ein fantastischer Schauspieler, und in seiner Melancholie, Sensibilität, aber auch Rigorosität gibt es sicherlich eine Wesensverwandtschaft zu Zweig. Durch den Umstand, dass Josef selbst schreibt und mit seinen Programmen eine politische wie gesellschaftliche Position ergreift, die ihn in Österreich so bekannt gemacht hat, wie Zweig es damals war, ist er ihm gewachsen. Josef wird wie Zweig als originärer Künstler wahrgenommen. Er ist kein klassischer Interpret, der versucht, so zu sein wie Zweig. Er verschwindet nicht hinter der Figur. Es ist eine Begegnung zweier Verwandter aus unterschiedlichen Jahrhunderten. Was Zweig passiert ist, könnte Hader auch passieren. Die Historie ist nur eine Folie.
Apropos Hader. Ist es einfacher, als Schauspielerin Regie zu führen, oder eher schwerer? Kann man sich besser einfühlen?
Ich denke, dass meine Art zu schreiben eng damit verknüpft ist, dass ich Schauspielerin bin. Ich kann nur Szenen oder Dialoge schreiben, wenn ich sie quasi im Kopf spiele. Ich bin ja gewohnt, Dialoge in Gedanken durchzugehen, verschiedene Rhythmen oder auch Bewegungsabläufe auszuprobieren. Ich komme also ziemlich vorbereitet in die Dreharbeiten und weiß eigentlich, wie ich mir die Szene vorstelle.
Sie mögen dann wahrscheinlich auch keine Improvisation.
Doch, ich mache ja viel Theater. Aber da gibt es lange Probenzeiten, in denen man viel versuchen kann. Beim Film muss man die Rahmenbedingungen vollkommen ändern, wenn man mit Improvisation arbeiten will. Damit meine ich jetzt echte Improvisation, szenisch, dialogisch... Da kommt man mit normal abgesteckten Drehzeiten nirgends hin. Nur weil etwas spontan erfunden wird, ist es ja nicht automatisch gut. Ich habe mal einen Film gemacht, da gab es Dialoge, aber keine szenischen Proben, keine Verabredungen. Wir haben alles parallel mit vier Kameras gedreht. Das ging, weil es ein Kammerspiel mit einer Handvoll Schauspielern war. »Vor der Morgenröte« hatte 84 Sprechrollen, sieben Sprachen und 26 Drehtage. Der Film hat seinen Rahmen sowieso täglich gesprengt. Aber in Wahrheit hat es keine Bedeutung, was du alles schaffst oder was nicht zu schaffen war. Am Ende steht ein Film. Von Wolfgang stammt der schöne Satz: »Wenn du kein Geld hast, ist alles machbar. Kaum gibt es ein Budget, geht nichts mehr.«
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