Yorgos Lanthimos: Lachen, Heulen und Zähneklappern
Yorgos Lanthimos und Emma Stone am Set von »Poor Things« (2023). © Atsushi Nishijima / 20th Century Studios
In den nuller Jahren war Yorgos Lanthimos Teil einer neuen Welle im griechischen Kino. Seit »The Favourite« ist er Anwärter auf die ganz großen Preise. Gebändigt hat ihn der Erfolg nicht, wie seine grelle Romanadaption »Poor Things« zeigt
Es wäre zu viel des Guten, Yorgos Lanthimos einen kinematografischen Dr. Frankenstein zu nennen. Aber es steckt etwas herrlich Selbstreferenzielles und Treffendes darin, wenn der von Willem Dafoe gespielte Dr. Godwin Baxter in »Poor Things«, ein gesichtsvernarbter Anatomieprofessor mit Hang zu verstörenden Körperexperimenten, proklamiert: »Empirie anstatt Emotionen!«
Besonders die früheren Filme des 1973 in Athen geborenen griechischen Regisseurs wirken wie kühl und klug kalkulierte soziologische Versuchsanordnungen, in denen Emotionen unter der Oberfläche der monoton gesprochenen, von ausdruckslosen Figuren scheinbar abgespulten Dialogen brodeln. Treten die Gefühle hervor, dann häufig mit brachialer Gewalt. Doch: Das Kino des Griechen hat etwas produktiv Monströses, es kratzt mit formalem Stilwillen, einer guten Portion sterilem Wahnsinn und im Modus zwischen absurdem Theater und Tragödie an eingeschliffenen gesellschaftlichen Konventionen.
Lanthimos wuchs größtenteils bei seiner Mutter, einer Ladenbesitzerin, auf, sein Vater spielte als professioneller Basketballspieler für den Athener Club Pagrati B.C. In den 1990ern drehte er eine Reihe von Videos für griechische Tanztheatergruppen. Ab 1995 folgten TV-Werbespots, Musikvideos, Kurzfilme und experimentelle Theaterstücke. Außerdem war Lanthimos, wie seine Kollegin Athina Rachel Tsangari (»Attenberg«), Teil des Kreativteams, das die Eröffnungs- und Abschlusszeremonien der Olympischen Sommerspiele 2004 in Athen gestaltete.
Sein Regiedebüt gab er mit der außerhalb Griechenlands kaum beachteten seichten Komödie »My Best Friend« (2001), die er gemeinsam mit Lakis Lazopoulos realisiert hat. Was für sein Debüt weniger galt, bricht sich seit seinem beim Toronto Film Festival uraufgeführten Solo-Regiedebüt »Kinetta« Bahn: Lanthimos distanziert sich von Erzählkonventionen und dem leicht verdaulichen Content vieler popkultureller Erzeugnisse unseres spätkapitalistischen Daseins. Wirklichkeitsflucht – die er selbst mit seinen sperrigen Filmen nicht bieten möchte – ist ein Thema, das sich bereits hier inhaltlich niederschlägt, denn in »Kinetta« erzählt er von einer Putzfrau, dem Angestellten eines Fotoladens und einem Polizisten, die, um der Monotonie und Tristesse in einem leer gefegten Touristenstädtchen zu entfliehen, halb gare Filmideen für Mord- und Misshandlungsszenen inszenieren und in die Rollen von Tätern und Opfern schlüpfen.
Glaubt man Vrasidas Karalis, der heute als Professor für Neugriechisch an der University of Sydney lehrt, so markierte »Kinetta« den Beginn eines neuen Stils im griechischen Film, der 2009 mit dem Nachfolger »Dogtooth« dem damals von der Finanzkrise besonders gebeutelten Land filmisch zu einer temporären Renaissance verhalf. Das verstörende Kammerspiel erzählt davon, wie Eltern ihre Kinder mit falschem Weltwissen im Mikrokosmos eines großzügigen Hauses hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt nach protofaschistischen Grundsätzen erziehen, bis eine der Töchter ausbricht. In Cannes wurde der Film mit dem Prix Un Certain Regard auszeichnet, außerdem war er für einen Oscar als bester nicht englischsprachiger Film nominiert.
Spätestens mit »Dogtooth« bekam das Kind einen Namen, natürlich auch der Mythenbildung wegen: Der junge, progressive griechische Film wurde als »Neue griechische Welle«, im englischen Sprachraum als »Greek Weird Wave«, weltweit gefeiert. Speerspitze dieser Welle waren Lanthimos und Athina Rachel Tsangari, die sich bei ihren Filmen vor und hinter der Kamera unterstützten.
Auf die filmische Sprache des Frühwerks von Lanthimos hatten der Kapitalismus beziehungsweise das nicht vorhandene Kapital für Filmproduktionen in seiner Heimat Griechenland wesentlichen Einfluss genommen. Mangels Filmförderung realisierten und finanzierten die Regisseure und Regisseurinnen ihre Filme größtenteils selbst. Ganz nach dem Motto: aus der Not eine Tugend machen und in den reduzierten Möglichkeiten kreative Freiheit finden. Lanthimos inszenierte mit einer formalen Strenge und einer Konsequenz, die an einen Michael Haneke denken ließ, allerdings mit einem Hang zum absurden Humor; er erzählte in statischen Einstellungen aus teils unkonventionellen Perspektiven und in dezentralen Bildkompositionen, die gern auch mal Körperteile abschneiden, von Fluchtversuchen: in eine andere Wirklichkeit, ein anderes System.
Letzteres gilt auch für seinen Film »Alpen« (2011). Der handelt von einem Kollektiv von vier Menschen, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, in die Rolle von Verstorbenen zu schlüpfen, um Angehörigen den Abschied zu erleichtern. Die vier selbst bleiben anonym, indem sie sich Namen der Berge der Alpen geben. Der Anführer, ein Rettungssanitäter, nennt sich »Mont Blanc«, nach dem höchsten Gipfel des Gebirges. »Mont Blanc« bestimmt die strikten Regeln der Gruppe und ahndet Verstöße mit brutaler Härte. Letztere bekommt die Krankenschwester »Monte Rosa« zu spüren, als sie (intime) Beziehungen mit Klienten eingeht und einen Fall verschweigt. »Alpen« stellt Fragen zur Identität. Die ganze existenzielle Tragweite manifestiert sich, wenn »Monte Rosa« am Ende des Films tatsächlich in der Rolle einer verstorbenen Tochter weiterleben möchte und bei deren Familie randaliert. Ihre persönliche Utopie scheint das ewige Reenactment zu sein.
In seinen drei griechischen Filmen konfrontiert Lanthimos uns mit Welten, die der unseren so fern nicht sind, die aber einer eigenen Logik folgen. Das beginnt in »Dogtooth« auf der ganz rudimentären Ebene der Sprache, wenn die Eltern ihren Kindern beibringen, dass eine »kleine gelbe Blume« Zombie heißt, oder wenn sie ihnen erklären, dass die Außenwelt wegen der Kreatur namens »Katze« so gefährlich sei. Ein Vierbeiner muss denn auch, aufgespießt mit einer Heckenschere, das Zeitliche segnen. Gegen die Bestien hilft, na klar: Bellen!
Indem er den psychologischen Zugang zu seinen Figuren verwehrt, erzeugt Lanthimos eine effektive Distanz, die zur Reflexion einlädt. Einfache Antworten gibt Lanthimos nie, er macht mit seinen Filmen vieldeutige Angebote. Kalt lassen sie dennoch nicht, sie sind zugleich lustig und verstörend und werfen universelle Fragen auf: Wer sind wir? Warum verhalten wir uns, wie wir uns verhalten, und welche Rolle spielen die Systeme, in denen wir uns bewegen?
Ein kritischer Geist ist seinen verschrobenen Filmen fest eingeschrieben, und er hat sich seine weirdness auch über Ländergrenzen und neue Produktionskontexte hin bewahrt. Dass er Griechenland verließ, begründete Lanthimos in Interviews damit, dass er seine Produktionen größer denken und nicht mehr am Rande der Selbstausbeutung arbeiten wollte. Seit 2011 wohnt er mit seiner Frau, der griechisch-französischen Schauspielerin Ariane Labed, die in vielen seiner Filme mitspielt, in London. Das alte Kollektiv scheint Bestand zu haben, denn Labed spielte zuletzt noch in Tsangaris schöner Debütserie »Trigonometry« um eine queere Dreiecksbeziehung mit.
Verschroben ist auch »The Lobster« von 2015 geraten, Lanthimos' erster englischsprachiger Film, prominent besetzt unter anderen mit Colin Farrell, Rachel Weisz und Olivia Colman. Wie lässt sich hintersinnig und klug dem Pärchenkult und Paarungsverhalten im digitalen Zeitalter ein absurd-komischer Spiegel vorhalten? Antwort Lanthimos: Indem man von einer nicht näher definierten dystopischen Zukunft erzählt, in der Singles in einem Hotel 45 Tage Zeit bekommen, sich einen Partner oder eine Partnerin zu suchen, bevor sie in ein Tier ihrer Wahl verwandelt werden. Wer masturbiert, dessen Hände werden getoastet, buchstäblich.
Die Figuren schlurfen, wie so oft bei Lanthimos, beinahe emotionslos durch das Selbsthilfezentrum für Singles und suchen ihr Pendant. Tatsächlich folgt die Verkuppelung jener kruden Logik, die auch den Algorithmen von Partnersuchmaschinen zugrunde liegt: Matchings, also gemeinsame Stärken oder auch Schwächen, entscheiden, wer zusammenpasst und wer nicht. Die Themen, an denen sich Lanthimos in »The Lobster« und seiner Arbeit generell abarbeitet, sind immer beides: aktuell und zeitlos.
Da passt es ins Bild, dass er mit »The Killing of a Sacred Deer« (2017) die griechische Mythologie mit einem modernen Genrefilm verheiratet. Lanthimos aktualisiert den antiken Mythos der Iphigenie des griechischen Dramatikers Euripides. Deren Vater Agamemnon wurde von Artemis bestraft, nachdem er im heiligen Hain einen Hirsch getötet hatte: Um seine Schuld zu sühnen, sollte er seine eigene Tochter opfern. Hirsche gibt es in »The Killing of a Sacred Deer« allerdings so wenige wie Hummer im Vorgänger.
Lanthimos, der das in Cannes ausgezeichnete Drehbuch, wie jedes seit »Dogtooth«, gemeinsam mit Efthimis Filippou geschrieben hat, erzählt hier von einem Herzchirurgen (erneut Farrell), der in gutbürgerlichen Verhältnissen mit seiner Frau (Nicole Kidman) lebt. Für den Sex legt sie sich breitarmig aufs Bett wie auf einen Operationstisch für die gewünschte Stellung »Allgemeinanästhesie«. Der Chirurg hat Blut an den Händen. Denn als er noch dem Alkohol zugeneigt war, ist der Vater eines Jungen (verstörend gut: Barry Keoghan) im OP unter seinen Händen gestorben. Der Junge fordert, nachdem er sich anfangs nett gezeigt hat, Sühne von dem Mediziner. Und wie: Erst sind plötzlich die Beine seiner Kinder gelähmt, dann verweigern sie das Essen, schließlich läuft dem Sohn das Blut aus den Augen. Um seine Schuld zu begleichen, soll der Chirurg eines der Familienmitglieder töten, ansonsten stürben alle seine Liebsten.
Spätestens mit »The Killing of a Sacred Deer« bekommt die neue Schaffensphase, die »The Lobster« einleitete, Kontur, denn die Austerität der vorherigen Filme wird ergänzt um einen formalen Expressionismus. Wie in Stanley Kubricks »Shining« schwebt die Kamera durch die Krankenhausflure, auf der Tonspur verstärken dissonante Sounds das Unsicherheitsgefühl. Lanthimos dekonstruiert, wie schon in »Dogtooth« und »Alpen«, traditionelle Familienstrukturen, er blickt hinter die gutbürgerliche Fassade und erzählt, angereichert mit staubtrockenem Humor, eine düstere Parabel über Schuld und Sühne. Mit dem Psychothriller-Modus und einem magischen Realismus spielte der Regisseur auch in seinem Kurzfilm »Nimic« (2019), der bei MUBI und Disney+ zu sehen ist. Darin wird ein Musiker von einer Frau heimgesucht, die behauptet, er zu sein.
Auf seine Variante des übernatürlichen Horrorfilms, den viele als seinen bösesten Film rezipierten, ließ er mit »The Favourite« eine Adelsgroteske folgen, die wiederum als sein »leichtester« wahrgenommen wurde. Leicht im Sinne von massenkompatibler, weniger hermetisch, was, dafür sprechen auch zehn Oscarnominierungen – ausgezeichnet wurde schließlich nur Olivia Colman als beste Hauptdarstellerin –, sicherlich stimmen mag. Die von manchen geäußerte Kritik, man hätte den Auteur nun künstlerisch an das britische Studiosystem oder an Hollywood verloren, geht allerdings am Ziel vorbei, denn auch seine »größeren« Filme sind eigensinnig durch und durch.
Das zeigt auch »The Favourite«. Lanthimos inszeniert den auf historischen Begebenheiten basierenden Film, der am englischen Königshof des beginnenden 18. Jahrhunderts spielt, als so giftige wie komische Farce. Der Film erzählt nach einem Drehbuch von Deborah Davis und Tony McNamara, wie zwei Cousinen (Rachel Weisz und Emma Stone), von denen die eine sich als einfache Zofe andienen muss, um die Gunst der kränklichen Königin (Colman) buhlen. Mit prächtiger Ausstattung, detailreichen Kostümen und einer dynamischen Kameraarbeit, die die Akteure mit Weitwinkeloptik in der erschlagenden Opulenz des Palasts ganz klein wirken lässt, entwirft Lanthimos ein boshaft-spaßiges Bild von Dekadenz, infantilem Machtmissbrauch und Günstlingswirtschaft.
Der griechische Regisseur hat sich seine kinematografische Exzentrik und seinen Sinn für formalästhetische Eigenheit bis heute bewahrt. Und er hat verstanden, dass er größere finanzielle Mittel bei gleichzeitiger künstlerischer Freiheit genau dafür nutzen kann: für die Erschaffung seiner diskursiven Gegenräume, die sich in »Poor Things« mehr denn je manifestieren. Zugleich scheint sich mit dem Film ein Kreis zu schließen, denn nachdem »Dogtooth« davon erzählte, wie Eltern ihre Kinder in der Abschottung zu kleinen Soziopathen erziehen, zeigt sein feministischer Frankenstein, wie die Welt über ein zuvor abgeschottetes vermeintliches »Monster« hereinbricht und wie sie reagiert.
Das in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnete Stationendrama atmet den Wahnsinn mit jeder Faser. In dem herrschaftlichen Londoner Haus des eingangs erwähnte Anatomieprofessors Dr. Godwin flitzen Hühner mit Schweineköpfen herum, und der Professor rülpst seine Gase in Seifenblasen heraus. Er lebt dort mit Bella (grandios körperperformativ: Emma Stone) zusammen, der er ein neues Gehirn eingepflanzt hat. Lanthimos etabliert mit seinen unkonventionellen Einstellungen, mit Fisheye-Optik, einem zwischen Dissonanz und Harmonie changierenden Score und einem retrofuturistisch anmutenden Set-Design eine ganz und gar eigene Welt voll schrecklicher Schönheit.
Sein Film aktualisiert den Frankenstein-Mythos nach einem Drehbuch von Tony McNamara, das auf dem Roman »Poor Things: Episodes from the Early Life of Archibald McCandless M.D., Scottish Public Health Officer« von Alasdair Gray aus dem Jahr 1992 basiert, als surreal überhöhte Groteske. Zu Filmbeginn humpelt und stakst Bella unbeholfen durch das Haus, kann kaum sprechen und ihre Impulse nicht kontrollieren. Mit Einsetzen ihrer, wenn man so sagen will, Pubertät wird sie zu einer Sexbesessenen, die mit einem Draufgänger-Dandy (herrlich: Mark Ruffalo) durchbrennt. Wir folgen Bella durch ihre Entwicklungsstadien auf einer Odyssee, bis sie als belesene sozialistische Prostituierte in einem Bordell in Paris landet. »Poor Things« ist ein Monsterfilm über das Monster Welt und zugleich eins der wohl schrägsten Coming of Ages der Filmgeschichte. In Bella spiegeln sich unser Umgang mit Sprache, Machthierarchien, Rollenbildern und (sexuellen) Identitäten wider – Themen, die das Werk des Griechen seit jeher durchziehen. Am Ende heulen und wimmern Männer und ein General mit Ziegenhirn kaut Gras. Der Mensch als Tier, das Tierische im Menschen – ein weiteres Motiv, das immer wieder auftaucht.
Lanthimos weiß sehr genau, dass die Welt ein absurder Ort ist und der Mensch ein absurdes Wesen. Das zeigt er immer aufs Neue in seinen Filmen, mit denen er das absurde Theater in die Bewegtbildkunst des 21. Jahrhunderts überführt. Wer das 1961 erschienene Standardwerk »Das Theater des Absurden« des britischen Theaterwissenschaftlers Martin Esslin aufschlägt, wird Augen machen, wie oft man das Kino des Griechen darin zu erkennen meint.
Esslin schreibt, dass das absurde Theater die Welt als unverständlichen Ort zeige und der Zuschauer das Geschehen auf der Bühne von außen betrachte, ohne jemals den vollen Sinn der seltsamen Muster zu verstehen. Und weiter: »An die Stelle der emotionalen Identifikation mit den Figuren tritt eine verwunderte, kritische Aufmerksamkeit. Denn so absurd das Geschehen auf der Bühne auch ist, so bleibt doch ein Bezug zum realen Leben mit seiner Absurdität erkennbar, so dass die Zuschauer schließlich mit der irrationalen Seite ihrer Existenz konfrontiert werden.«
Der Film als produktiv verzerrender Spiegel, ob mit soziologischer Austerität wie in den früheren Filmen oder mit der eigensinnig-opulenten Ästhetik der neueren Werke: Der griechische Regisseur will uns mit uns selbst konfrontieren, uns heraus- und überfordern, uns schmunzeln und schaudern lassen. Genau dazwischen liegt das Lanthimos-Gefühl. Man darf hoffen, dass sich der Regisseur seine Exzentrik auch für seinen bereits angekündigten neuen Film »And« bewahrt. Das Drehbuch dazu hat er wieder gemeinsam mit Filippou geschrieben, und neben Emma Stone und Willem Dafoe wird erstmals Jesse Plemons mitspielen.
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