Nahaufnahme von Tim Roth
Vicky Krieps, Tim Roth in »Bergman Island« (2020). © Weltkino
Mit 60 blickt Tim Roth auf eine recht exzentrische Karriere zurück: Kultauftritte bei Tarantino, würdige Indiefilme, zweifelhafte Blockbuster, viele Geschichten über Männer in Krisen. Jetzt ist er in Mia Hansen-Løves »Bergman Island« zu sehen
»I love you, Honey Bunny«. Mit diesen Worten steigt der fluchende Kleingangster Pumpkin auf die Sitzbank eines amerikanischen Diners, zückt den Revolver und startet den gemeinsam mit seiner Honey Bunny (Amanda Plummer) geplanten Überfall. Und der 33-jährige Tim Roth geht mit diesem Intermezzo zu Beginn von Quentin Tarantinos »Pulp Fiction« 1994 in die Filmgeschichte ein. Der Dialog schafft es gar auf den Soundtrack, der damals, wie der Film selbst, zum Kult wird. Nicht zuletzt deswegen ist Pumpkin der bis heute wohl bekannteste Leinwandauftritt des britischen Schauspielers, der im Mai 60 wurde. In seiner Prägnanz ist er allerdings durchaus nicht unüblich für Roth, der seit den 80er Jahren konstant gefragt ist, auf mehr als 100 Filme und Serien zurückblicken kann und es zu einer steten Karriere als eine Art Antistar gebracht hat.
Oft spielt er kaputte Typen, geschundene Seelen, die ihren Schmerz hinter Coolness und ausgestellter Härte verstecken. Schon der erste Auftritt 1982 war das Versprechen eines unangepassten Talents. In Alan Clarkes Fernsehfilm »Made in Britain« spielte Roth einen jugendlichen Neonazi und Gewalttäter, Trevor, der sich gegen jeden Versuch der Resozialisierung wehrt. Nicht nur sein wuchtiges Charisma in dem für angeblich 1000 britische Pfund gedrehten Film überraschte, bereits zuvor wusste der bis dahin komplett unbekannte Roth den Regisseur auf sich aufmerksam zu machen. Zum Casting war er eine halbe Stunde zu früh erschienen und vertrieb sich die Wartezeit im Park, den Clarke von seinem Bürofenster aus sehen konnte. Mit einem befreundeten Punk fingierte er eine handfeste Auseinandersetzung, die so überzeugend gewirkt haben muss, dass die Polizei einschritt. Bei Clarke machte das derart Eindruck, dass er ihn vom Fleck weg engagierte. So zumindest Roths Version der Geschichte, der in Interviews gern den lässigen, abgeklärten Typen gibt und eine sehr gesunde Distanz zu seinem Beruf erkennen lässt.
Zumindest zeigt er ein hohes Bewusstsein dafür, wie er wirkt, auf der Leinwand und abseits davon. Aber vielleicht ist er tatsächlich so entspannt und lässt sich als South London Lad einfach nicht kirre machen von den Erwartungen des Business. Privat scheint er ein für die Medien uninteressant anständiges Leben zu führen. Seit 1993 ist er mit Nikki Butler verheiratet, sie haben zwei inzwischen erwachsene Söhne, Roths ältester Sohn Jack aus einer früheren Beziehung ist ebenfalls Schauspieler geworden. Für Schlagzeilen sorgt allenfalls sein politisches Engagement für die britischen Grünen oder den US-Linken Bernie Sanders.
Tim Roth ist im Süden Londons aufgewachsen und stammt aus einer kreativen Familie. Beide Eltern waren Kunstmaler, sein Vater Ernie, ein Amerikaner irischer Abstammung, verdiente den Lebensunterhalt als Journalist, Mutter Ann arbeitete auch als Lehrerin. Seine Kindheit war überschattet von jahrelangem Missbrauch durch seinen Großvater, wie er in einem Interview im »Guardian« vor fünf Jahren offenbarte. Auch Roths Vater war bereits Opfer sexueller Übergriffe durch ihn gewesen. Der Schauspieler verarbeitete seine traumatischen Erfahrungen 1999 im Regiedebüt »War Zone«, einer beklemmenden Familientragödie mit Ray Winstone, die von der Kritik hoch gelobt wurde, doch Roths bislang einziges Werk hinter der Kamera ist.
Er studierte zunächst Bildhauerei am Camberwell College of Art, beschloss dann aber, Schauspieler zu werden. Er tingelte durch kleine Theater, Schauspielschule hat nie geklappt, und saß mit seinen Schauspielkumpels nachts oft im Kino, bei Klassikern des europäischen Kinos wie Wajda und Bergman. Er hoffte, dadurch cool zu werden, erinnert er sich in Cannes, wo er im Juli Mia Hansen-Løves »Bergman Island« vorstellte, der nun ins Kino kommt. Darin spielen er und Vicky Krieps ein Filmemacherpaar, das zum inspirierten Schreiben auf die schwedische Insel Farö fährt, zum langjährigen Wohnort Ingmar Bergmans. Und damals im Kino bei Bergman, den er sich nur ansah, um cool zu wirken, sei er dann ehrlich berührt gewesen.
Durch »Made in Britain« wurden auch andere Filmemacher auf ihn aufmerksam, Stephen Frears besetzte ihn 1984 als Auftragskiller in »The Hit«, Roths Kinodebüt, Agnieszka Holland in »Der Priestermord« (1988), Peter Greenaway in »Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber« (1989) und Tom Stoppard in der Tragikomödie »Rosenkranz und Güldenstern« an der Seite von Gary Oldman (1990). In den späten 80ern zählt er, zusammen mit Oldman, Daniel Day-Lewis, Colin Firth und anderen, zum »Brit Pack«, einer losen Gruppe junger Schauspieler, die über die Insel hinaus für Furore sorgten. Roth folgte bald dem Ruf Hollywoods, seit Anfang der 90er lebt er in Los Angeles, nicht nur wegen der Karriere und des englischen Regenwetters, sondern weil ihm die Thatcher-Ära auf den Magen schlug. Dort eilte ihm sein Ruf voraus, und der unbekannte Filmfreak Quentin Tarantino besetzte ihn 1992 in seinem Regiedebüt »Reservoir Dogs« über einen missglückten Raubüberfall als Mr. Orange. Es entstand eine bis heute anhaltende Freundschaft und Arbeitsbeziehung. In »The Hateful Eight« spielte Roth einen wortgewandten britischen Henker namens Oswaldo Mobray; sein Part in »Once upon a Time... in Hollywood« fiel dem Schnitt zu Opfer.
Nach einer Reihe in Erinnerung bleibender Nebenrollen wie die des fiesen Günstlings Archibald Cunningham im Historiendrama »Rob Roy«, für die er den Bafta Award bekam, spielte Roth in den 90ern Hauptrollen in bemerkenswerten Low-Budget- und Independentfilmen wie James Grays Regiedebüt »Little Odessa« (1994) und Buddy Giovinazzos Gangsterdrama »Unter Brüdern« (1996). Auch bei europäischen Regisseuren ist er gefragt, Wim Wenders besetzte ihn gleich mehrmals, in »The Million Dollar Hotel« und »Don't Come Knocking«, für Werner Herzog stand er in »Invincible – Unbesiegbar« als jüdischer Hellseher Hanussen vor der Kamera.
Klaren Zuschreibungen entzieht er sich immer wieder geschickt. Und er zeigt eine große Bandbreite, spielt Ganoven und Polizisten, aber auch zweifelnde Künstler wie van Gogh in Robert Altmans biografischem Brüderdrama »Vincent & Theo«. Immer wieder beweist er auch komisches Talent wie im Anthologiefilm »Four Rooms« als Hotelpage, und auch leise und subtil kann er, wie in Giuseppe Tornatores »Die Legende des Ozeanpianisten« als genialischer Klavierspieler, der sein ganzes Leben auf einem Schiff verbringt. Roth hat ein sicheres Händchen für Regisseure, nicht so sehr für einzelne Filme. So stand er für Francis Ford Coppola in »Jugend ohne Jugend« vor der Kamera und für Michael Haneke im US-Remake von »Funny Games«, Rollen, die sich gut in Roths Liga gequälter Männer einreihen, aber keine Glanzlichter in den Filmografien der Meisterregisseure.
Die Freiheit, an ambitionierten, aber oft unterfinanzierten Projekten mitzuwirken, subventioniert sich Roth hin und wieder mit Auftritten in Großproduktionen und Franchisefilmen wie als Schimpansengeneral Thade in Tim Burtons »Planet der Affen«, dem Horror-Remake »Dark Water« oder Fernsehserien wie »Lie To Me« (2009-11) als Psychologe und Lügenexperte oder in »Tin Star« (2017–2020) als Undercoverpolizist. Er sei zur Stelle, »wann immer ein teigiges Britengesicht gebraucht wird«, sagt er und macht keinen Hehl daraus, dass es manchmal einfach ums Geld geht. So verkörperte er 2008 in »Der unglaubliche Hulk« den Spion Emil Blonsky und Hulks Erzfeind Abomination und leiht ihm nun im MCU-Superheldenfilm »Shang-Chi and the Legend of the Ten Rings« seine Stimme. Darauf angesprochen sagt Roth mit breitem Grinsen: »Ach ja, da bin ich auch dabei. Kann mich kaum erinnern.«
Umgekehrt scheint er es nicht krummzunehmen, wenn er wie in »Once Upon A Time... in Hollywood« am Ende herausgeschnitten wird. Roth sieht sich nach eigenen Angaben nur selten überhaupt den fertigen Film an. Manchmal macht er eine Ausnahme, wenn er wie in diesem Jahr in gleich zwei Autorenfilmen mitwirkt, die auf A-Festivals Premiere feiern, wie »Bergman Island«, der im Juli in Cannes lief, und Michel Francos Familiendrama »Sundown«, das Roth im September in Venedig vorstellte. Darin spielt er einen Mann, der im Acapulcourlaub vom Tod seiner Mutter erfährt, und statt mit der Familie zur Beerdigung zu fahren, in Mexiko ein neues Leben beginnt. Wieder einer dieser merkwürdigen Roth-Typen, die nicht in sich hineinschauen lassen.
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