Kritik zu Doctor Strange
Von Rachel McAdams über Mads Mikkelsen bis Tilda Swinton und Benedict Cumberbatch: Der neueste Ableger des Marvel-Universums tut sich mit psychedelischer Optik und seinem Indie-Film-Cast hervor
Westliche Medizin hat mir nicht weitergeholfen, also bin ich in den Fernen Osten gegangen«, erklärt Dr. Stephen Strange seiner verdutzten Kollegin, als er ihr in Form einer Art Astralprojektion in Samurai-artigem Gewand nach langer Zeit wieder erscheint. Es ist einer der vielen guten Gags in Marvels neustem Event-Film »Doctor Strange«, aber in dem One-Liner steckt auch Wahrheit: Strange, gespielt von Benedict Cumberbatch, ist einer jener zahlreichen Superhelden, die es zur Entwicklung ihrer Kräfte nach Ostasien zieht – in diesem Fall Nepal. Ohne den vom westlichen Orientalismus geprägten Blick auf den vermeintlich magischen Osten kommt also auch »Doctor Strange« nicht aus.
Davon abgesehen aber weicht der von Regissseur Scott Derickson inszenierte Film in mancherlei Hinsicht angenehm vom allgegenwärtigen Superhelden-Stoff ab: Zum Beispiel schreibt es sich die Hauptfigur explizit auf die Fahne, seine Gegner ohne jegliche Gewalt zu bezwingen. Stephen Strange nimmt den Hippokratischen Eid, den er als Mediziner geschworen hat, auch noch als übermächtiger Magier ernst. Ein entscheidender Konflikt des Films wird etwa tatsächlich durch geschicktes Verhandeln gelöst, anstatt durch endlose Faustkämpfe, wie etwa bei den Avengers üblich. Diese Betonung von Diplomatie im Angesicht waffenstarrender Gegner im sonst Action-affinen Blockbuster-Bereich, erinnert an den ebenfalls im November in die Kinos kommenden »Arrival«, der einen ähnlichen Kniff im Alien-Invasionsfilm anwendet.
Die zugegeben doch etwas formelhafte Origin-Story des zaubernden Arztes macht der hervorragende Cast wett, der eher nach stilvollem Arthouse-Hit als nach Marvel-Studios klingt: Neben dem sichtlich amüsiert aufspielendem Cumberbatch überzeugen in Nebenrollen Mads Mikkelsen, Chiwetel Ejiofor, Michael Stuhlbarg und Tilda Swinton – letztere fügt ihrer langen Reihe von abgedrehten Rollen als uralte Zen-Meisterin hier noch eine besonders schräge hinzu. Wie sein Avengers-Kollege Tony Stark ist Strange ein extrem wohlhabender, extrem arroganter Mann, der erst durch körperliche Versehrtheit den Weg zum aufopfernden Superhelden-Dasein findet. Nach einem von ihm verursachten Autounfall sind seine »magischen« Hände, die seinen Ruhm als Star-Chirurg begründet haben, plötzlich noch nicht einmal mehr zum Rasieren zu gebrauchen. Auf den Hochmut folgt also wie so oft in diesem Genre der tiefe Fall und es braucht erst die Weisungen von Tilda Swintons »Ancient One« um Strange auf den Pfad der Tugend zu führen.
Das geschieht unter anderem in einer frühen, aberwitzigen Sequenz, in der dem verwunderten Doktor der ganze Kosmos um die Ohren fliegt und sich kaleidoskopartige Parallelwelten vor ihm öffnen. Nicht nur mit dieser wirklich berauschenden Special-Effects-Orgie tut sich »Doctor Strange« auch optisch wohltuend aus dem plastikhaften Marvel-Brei hervor. Auch in anderen Szenen nutzen die Filmemacher das Potential der 3D-Technik und des IMAX-Formates spektakulär aus: In Anlehnung an »Inception« werden hier ganze Städte im Stil von M.C. Escher psychedelisch ineinander gefaltet und unmögliche Blickwinkel erkundet. Nicht zufällig liest Marvel-Guru Stan Lee in seinem obligatorischen Cameo-Auftritt Aldous Huxleys Drogen-Kultbuch »Die Pforten der Wahrnehmung«: »Doctor Strange« könnte mit seiner halluzinogenen Optik zum zukünftigen Geheimtipp für zugedröhnte Teenager werden.
Ohne Zweifel ist der ganze Film trotz allem ein esoterisch angehauchter Humbug; aber er setzt auf eine gewisse Leichtigkeit und verzichtet auf den nervigen Pathos, der selbst humoristische Marvel-Experimente wie »Guardians of the Galaxy« noch umwehte. Stattdessen erinnert Derricksons Film mit seinen irrwitzigen Kapriolen durch parallele Universen und seinem spielerischen Umgang mit der Realität in seinen besten Momenten an die anarchische Animationsserie »Rick and Morty« – wenn auch natürlich in familienfreundlichem Gewand. Nach dem furiosen Showdown bleibt einem dann auch als ausgewiesener Marvel-Skeptiker nur zu sagen: Wie ich lernte Dr. Seltsam zu lieben.
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