Kritik zu Die Mitte der Welt
Coming of Age, aber noch mal anders: Jakob M. Erwa gelingt mit seiner Adaption des Romans aus der Feder des »Rico, Oskar«-Autors Andreas Steinhöfel ein großer Wurf
Wo ist die Mitte der Welt? Von der ausweichenden Antwort der Mutter auf die brennende Frage ihres Sohnes handelt dieser Film nach dem gleichnamigen Buch des schwulen Kinder- und Jugendbuchautors Andreas Steinhöfel, der spätestens seit seiner Vorlagen für die »Rico, Oskar«-Reihe zu den prominenten deutschen Autoren zählt. Die Suche nach der verlorenen Mitte, die Steinhöfel in seinem frühen Roman thematisierte, erzählt der Österreicher Jakob M. Erwa aus der Sicht eines 17-Jährigen. Phil (Louis Hofmann) ist gerade aus einem Sommercamp nach Hause gekommen, wo sich einiges verändert hat. Ein Sturm verwüstete Teile des Dorfs, in dem er aufgewachsen ist. Seine Zwillingsschwester Dianne (Ada Philine Stappenbeck) redet nicht mehr mit seiner alleinerziehenden Mutter (Sabine Timoteo). Doch die atmosphärischen Störungen sind im Moment zweitrangig. Seit Nicholas (Jannik Schümann) neu in die Klasse gekommen ist, ist Phil erstmals verliebt. Seine Busenfreundin Kat (Svenja Jung) rät dringend ab, der Typ sei merkwürdig. Trotzdem gestaltet sich das Kennenlernen beinahe gespenstisch unverkrampft. Schwules Coming-out? Kein Thema.
Das heißt aber nicht, dass es in diesem subtilen Coming-of-Age-Drama keine Probleme gäbe. Ganz im Gegenteil. Die Fallstricke werden erst allmählich sichtbar hinter der Fassade einer provozierend liberalen Lebensweise, die Erwa mit einem wahren Bilderfeuerwerk beschreibt. Atmosphärische Rückblenden, witzige Collagen und die pointierte Selbstdarstellung des Off-Erzählers illustrieren eine vermeintlich harmonische, von keinerlei Zwängen und Konventionen eingeengte Kindheit. Trotzdem stockt Phil, dem Louis Hofmann eine erstaunliche Leinwandpräsenz verleiht, bei der ersten Begegnung mit seinem Traummann der Atem. Stellvertretend für sein Gesicht wird gleich das gesamte Bild rot. Manchmal regnet es goldene Flitter. Schreibt Phil seinem bald darauf neben ihm im Bett liegenden Freund mit dem Finger verträumt »I Love You« auf den Rücken, dann leuchten die Buchstaben kurz auf.
Erwas szenische Erfindungen, locker aus dem Handgelenk geschüttelt, wirken nie manieriert. Der Regisseur hat einen zärtlichen Blick für Männerkörper, die recht freizügig ausgeleuchtet werden. Zusammen mit dem geschmackvollen Soundtrack ziehen die Bilder einen hypnotisch hinein in die Geschichte, die auf den Moment zusteuert, als der neue Freund Phils berüchtigte Mutter kennenlernen möchte. Eigentlich gibt es keinen Grund, dass das hochnotpeinlich wäre. Mama ist demonstrativ locker und lobt ihren Sohn für seinen »guten Geschmack«.
Das eigentliche Problem ist, dass es keins gibt. In dieser Märchenwelt ohne Verbote und Einschränkungen kommt dem frisch Verliebten die Orientierung abhanden. Seine Angstschübe hängen mit dem Filmtitel zusammen: »Die Mitte der Welt« erweist sich als fehlendes Zentrum in Gestalt jenes Vaters, über den die Mutter beharrlich schwieg. Zum Leidwesen ihrer beiden Kinder vertreibt die verpeilte Späthippie-Mutter auch weiterhin alle Männer. Allein unter »starken Frauenfiguren« entsteht so ein psychologisches Vakuum, in dem Phil sich verloren fühlt. Einziger Lichtblick ist Michael (Sascha Alexander Geršak), der aktuelle Lover der Mutter. Dieser knuffige Bär ist Manns genug, um nicht gleich die Flucht anzutreten. Als Schreiner ist er nicht zufällig der Einzige, der mit dem Wirtschaftskreislauf zu tun hat und etwas Konkretes produziert. Dagegen nennt Phils Mutter sich »Glass« und lebt in einer Villa Kunterbunt namens »Visible«.
Es gibt einige blinde Flecken in diesem sympathischen Szenario. Dass Phil seinen Freund mit der Busenfreundin im Bett erwischt, muss nicht sein. Am Ende scheint er die verlorene Mitte in einem Patchwork-Geflecht gefunden zu haben, in dem ein befreundetes Lesbenpaar und ein Aushilfspapa die vakante Rolle übernehmen. Das ist nachvollziehbar. Allein die versöhnliche Annäherung an die Rabenmutter, die man die ganze Zeit über nur schütteln möchte, erzeugt gemischte Gefühle. Trotzdem bleibt der schillernde Film in lebhafter Erinnerung.
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