Kritik zu Die Kunst der Nächstenliebe
Agnès Jaoui erweist sich in diesem Psychogramm einer umtriebigen Wohltäterin, die ihre Angehörigen und sich selbst überfordert, erneut als treffsichere Komödiantin
Isabelle steht ständig unter Dampf. Sie will helfen, unbedingt, und engagiert sich ehrenamtlich in einem Sozialzentrum, wo sie Migranten Lesen und Schreiben beizubringen versucht. Sie verteilt auch Kleiderspenden in einem Obdachlosenlager. Dass ihre Flyer mit Kursangeboten im Feuer landen, übersieht sie. Sie überhört auch den Frust ihrer Tochter, die sich beschwert, dass ständig Klamotten abhandenkommen. Als sie ihren Mann Ajdin (der deutsche Schauspieler Tim Seyfi), den sie als NGO-Mitarbeiterin im Jugoslawienkrieg kennenlernte, in einer Bettszene mit »Mein schöner Flüchtling!« anspricht, kriegt auch er die Krise.
Nicht ignorieren kann Isabelle jedoch die neue Sprachlehrerin Elke, die ihr unabsichtlich Schüler abspenstig macht. Um Punkte zu sammeln, versucht Isabelle, einen zerzausten Taxifahrer dazu zu bewegen, ihren Schützlingen Gratisfahrstunden zu erteilen. »Sie sind eine Bourgeoise und machen auf sozial, ich bin ein Prolo und mache auf Business«, sagt Attila, der indes pleite ist. Dass er selbst migrantischer (nämlich ungarischer) Abstammung und also auch irgendwie »Opfer« ist, begreift die im Umgang mit der Bürokratie gewiefte Isabelle als Möglichkeit, Fördergelder für eine »soziale Fahrschule« lockerzumachen.
Mit solch gepfefferten Szenen wird in dieser Tragikomödie das Risiko eingegangen, den Beifall der »falschen Seite« zu erheischen. Bei Isabelles blindwütigem Aktionismus treten nicht nur die Sollbruchstellen des Wohlfahrtsstaats zutage. Schnell steht die Frage im Raum, wer hier wen retten soll. Doch dank der großartigen Agnès Jaoui gerät die übergriffige Wohltäterin nie zur hämischen Karikatur. Selbst wenn Isabelle, die eine riesige geerbte Eigentumswohnung bewohnt, ihren Angehörigen vom moralisch hohen Ross herab wegen ihres reuelosen Konsums Vorhaltungen macht, wirkt sie nicht unsympathisch. Man lacht nicht über Isabelle, die tatsächlich ein guter Mensch ist, sondern über die Reaktionen auf ihr passiv-aggressives Verhalten. Projiziert sie ihr schlechtes Gewissen auf andere – oder hat ihre Wut einen konkreten Ursprung? In ihrem Konfrontationskurs mit ihrer Umgebung muss sie sich einem verdrängten Schmerz stellen.
Im Fahrwasser von »Monsieur Claude« und »Der Glanz der Unsichtbaren« wird in diesem Psychogramm mit der Verzahnung von Privatem und Politischem ein munteres, oft albernes Spiel mit kognitiven Dissonanzen und Klischees getrieben. Wenn in Person der allzu perfekten Deutschen Elke Hammler das Helfersyndrom einerseits platt und andererseits treffend zugespitzt wird, muss man erst mal tief Luft holen. Dann wiederum ergeben sich ebenso leise wie herzzerreißende Momente familiärer Grausamkeit.
Letztlich mündet Isabelles Versuch, das wahre Leben im falschen zu führen, in handfesten Pragmatismus: Ist doch egal, ob ihr Weltverbesserertum auch die Kompensation einer Neurose ist, solange sie Gutes bewirkt. Das Erfreulichste an dieser Sittenkomödie ist, dass ein Frauencharakter in all seiner Widersprüchlichkeit zur Geltung kommen darf.
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