Kritik zu Boyhood
Richard Linklater hat sich bereits mit seiner »Before Sunrise/Sunset/Midnight«-Trilogie als Spezialist für filmische Langzeitbeobachtungen empfohlen. Nun legt er einen Bildungsroman vor, an dem nicht nur die Produktionsgeschichte einmalig ist
Das ist ein schlimmer Augenblick, auch wenn er schnell vorüber ist: Masons Mutter hat eine neue Stellung in einer anderen Stadt gefunden. Nun bricht sie zusammen mit dem Sechsjährigen und seiner älteren Schwester Samantha in ein neues Lebenskapitel auf. Aus dem Rückfenster des Wagens sieht Mason in einer Seitenstraße seinen Schulkameraden auf dem Rad herbeieilen. Der Freund will sich noch von ihm verabschieden. Dafür bleibt nun keine Zeit mehr. Im Vorbeifahren erkennen sie einander gerade noch, ihre Blicke treffen sich für einen Sekundenbruchteil. Richard Linklater filmt diesen Moment in einer Kamerafahrt, er verweilt nicht bei der verpassten Begegnung. Unvorstellbar, dass irgendjemand im Kinosaal nicht begreifen könnte, wie schwer das wiegt: nicht Abschied nehmen zu können vom besten Freund, den man mit sechs Jahren hat.
Die Bewegung der Kamera ist schnell und wirkt dennoch behutsam. Der Film ist zu diesem Zeitpunkt nur wenige Minuten alt, aber in dieser Fahrt ist schon seine ganze Weisheit enthalten. Wie das Leben voranschreitet, ist in »Boyhood« eine passagere, niemals jedoch flüchtige Erfahrung. Die Momente, die das Heranwachsen Masons (Ellar Coltrane) bestimmen, sind einen Augenblick später unwiederbringlich vergangen, aber Linklater gibt ihnen ihr eigenes, unwiderrufliches Gewicht.
Der Film weiß, wie endgültig die vorläufigen Gefühle erscheinen können, wenn man sechs, zwölf oder 18 Jahre alt ist. Aber zugleich besteht er auf der Bewegung nach vorn, erklärt sich einverstanden mit dem unaufhörlichen Fluss des Lebens. Der Zeitraffer, in dem zwölf Jahre in Masons Leben ablaufen, hat ein menschliches Maß. Die Erfahrungen, die er in dieser Zeit macht, sind universell und zugleich einzigartig. Er macht, aber sammelt sie nicht. Der Film wird ihn an seinem Ende keine Bilanz ziehen lassen, sondern ihn begleiten, als er die Schwelle zu einem neuen Abschnitt überschreitet.
Von 2002 an hat Linklater die Darsteller von Mason und seiner Familie alljährlich für ein paar Drehtage versammelt, um sie in einer neuen Etappe zu filmen. Zum ersten Mal in der Kinogeschichte erzählt ein einziger Film (im Gegensatz zu einer Serie) einen Bildungsroman, der das leistet, was der Literatur selbstverständlich und mühelos gelingt: Die Protagonisten bleiben identisch, ihr Älterwerden wird nicht durch Make-up oder Umbesetzungen fingiert.
Der leibliche Vater, Mason Sr., muss erst noch in seine Verantwortung hineinfinden. Ethan Hawke spielt ihn zunächst sympathisch verschludert, lässt aber nie einen Zweifel an seiner emotionalen Verlässlichkeit aufkommen. Seine Mutter (Patricia Arquette) gerät an lauter Männer, die hilflos brachial jene Disziplin durchzusetzen trachten, an der es Mason Sr. gebricht. Schwester Samantha (Linklaters Tochter Lorelei) ist anfangs eine gewitzte Tyrannin; einige Jahre später entpuppt sie sich als verlegener Backfisch.
Diese einzigartige Langzeitbeobachtung hätte aus tausend Gründen scheitern können, unter denen der wichtigste den Hauptdarsteller betrifft: Was, wenn Ellar Coltrane sich zwar mit sechs als vielversprechend, in späteren Jahren aber als untalentiert erwiesen hätte? Aber glücklicherweise ist dem Film sein Zentrum nicht abhanden gekommen. Coltrane ist ein hingebungsvoller Schauspieler, den das Unfertige seiner Figur niemals geniert. Er wächst nicht in die Rolle hinein, sondern mit ihr. Er verleiht ihr einen träumerischen, anfangs entrückten Zug. In der provinziellen Welt texanischer Klein- und Großstädte (es wird viel umgezogen in diesem Film) kann er gut bestehen. Es könnte einmal ein guter Fotograf aus ihm werden.
Erstaunlicher noch als seine Produktionsgeschichte ist das affirmative, emphatische Bild, das Linklaters Film vom Heranwachsen zeichnet. Trotz aller Fährnisse des unsteten Patchworkdaseins muss sich der Zuschauer nie ernsthafte Sorgen um Mason und seine Familie machen. Kindheit und Jugend sind in »Boyhood« kein ungeschützter Ort. Linklater erzählt von ihnen wie ein Vater, der gelassen vorausblickt.
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