Das Passagenwerk

Patrick Seyboth über das Universum von Richard Linklater
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© Jay Janner/Austin American-State

Richard Linklater stand für die »Generation X« und das junge US-Independentkino, pendelte dann zwischen Kunst und Mainstream und blieb dabei immer ein filmender Philosoph

Es wird viel geredet. Über die Liebe und den Alltag, Politik und Paralleluniversen, über den freien Willen, die Macht der Medien oder Vaginalabstriche von Madonna. Wie im richtigen Leben münden große Theorie in Plattitüden und scheinbar banale Beobachtungen in eine frappierende Erkenntnis. Nicht nur Richard Linklaters Protagonisten gehen da der allmählichen Verfertigung der Gedanken und Gefühle beim Reden nach, sondern in und über ihren Dialogen immer auch der Filmemacher. Wenn Ethan Hawke und Julie Delpy als Jesse und Celine durch die Before-Trilogie spazieren, auf den Straßen von Wien, Paris oder zwischen altgriechischen Ruinen, dann reflektiert das, wie aus dem Ephemeren das Epische entsteht, im Alltäglichen das Außerordentliche schlummert. Dies zu erkennen, dazu muss im Film wie im Leben Zeit vergehen. Und dieses schwer greifbare Wirken der Zeit erforscht Richard Linklater seit Beginn seiner Karriere: beharrlich, geradezu obsessiv, doch immer unterhaltsam. Wie so viele seiner Figuren ist der Künstler Linklater ein »Drifter«, ein umherschweifender, stets skeptischer Sinnsucher. So kommen sich in seinen Passagen Darsteller und ihre Rollen, Leben und Film sehr nah.

Es birgt eine gewisse Ironie, dass der so belesene, weltoffene Link­later aus Texas stammt – wie übrigens auch sein Lieblingsschauspieler Ethan Hawke –, welches doch als Inbegriff der Engstirnigkeit gilt. Bis heute betreibt Linklater seine Produktionsfirma Detour Filmproduction in Austin, und die meisten seiner Filme spielen in der offenbar doch sehr geliebten Heimat. Zugleich sind sie voller Attacken auf Redneck-Mentalität und amerikanische Selbstherrlichkeit, und sei es in der humorigen Ansprache einer Lehrerin in Dazed and Confused (Confusion – Sommer der Ausgeflippten) : »Wenn es um das ganze 4.-Juli-Getue geht, dann denkt daran, ihr feiert ­eine Bande von sklavenhaltenden weißen Aristokraten, die einfach ­ihre Steuern nicht zahlen wollten.« Ein durch und durch politisches Werk wie das bissige Ensembledrama Fast Food Nation von 2006, in dem der Vegetarier Link­later 2006 mit der »Scheiße im Fleisch« und einem Establishment abrechnet, dem es nur um Profit geht, ist allerdings eine Ausnahme.

»Fast Food Nation« (2006)

Die Leidenschaft des 1960 in Houston geborenen Linklater galt zunächst nicht dem Film, sondern dem Baseball; den Traum von einer Sportkarriere musste er allerdings früh wegen einer Herzarhythmie aufgeben. Auch ein Studium brach er ab, arbeitete stattdessen Anfang der 1980er Jahre auf einer Ölbohrinsel im Golf von Mexiko. In jener Zeit lernte er das Kino lieben. Scorseses Raging Bull (Wie ein Wilder Stier) spielte dabei eine zündende Rolle; Europäer von Bresson bis Fassbinder und – bis heute unverkennbar – Rohmer inspirierten ihn. Der filmische Autodidakt gründete den Club Austin Film Society, um dort seine Lieblingswerke zu zeigen, bevor er selbst zur Super8-Kamera griff.
 
»Was machst du so?« – 
»Ach, nicht viel. Rumhängen«
 
»Slacker« (1991)
Schon in seinem ersten langen Film It’s Impossible to Learn to Plow by Reading Books (1988) etablierte er seine thematische wie formale Handschrift, die weitgehende Plotlosigkeit, das Multiper­spektivische, den Blick auf Beiläufiges, Flüchtiges in uneitlem, doch ausgefeiltem Kamerastil. Mit Slacker – Rumtreiber kam 1991 der plötzliche Ruhm. Linklater etablierte damit nicht nur ein Modewort, sondern galt bald als »Prophet der Generation X«, auch dies eine Ironie, denn er selbst gehört zur Generation der »Baby Boomer«. Als begegne die Kamera auf den Straßen Austins zufällig den wechselnden Protagonisten, driftet die Erzählung da von einer Episode zur nächsten, zeichnet in langen Einstellungen das Bild einer orientierungslosen Jugend zwischen Träumen, Blockaden, Verschwörungstheorien à gogo und Zeittotschlagen: »Was machst du so?« – »Ach, nicht viel. Rumhängen.« Ein absurdes Straßen- und Zimmertheater, in dem die Abschweifung der Königsweg ist. Wie Slacker spielt auch der leichtere Nachfolger Dazed and Confused (1993) in 24 Stunden und vereint eine Vielzahl von Protagonisten in einer stringenteren Narration. Es ist Linklaters erster »historischer« Film, angesiedelt im Jahr 1976, und eine wunderbare Liebeserklärung an American Graffiti: ein autobiografisch gefärbter Highschool- und Party-Film um Seniors und Freshmen, voller Musik und Marihuanaschwaden, mit einem Ensemble künftiger Stars wie Adam Goldberg, Milla Jovovich, Ben Affleck und Matthew McConaughey in seiner ersten Filmrolle.

»Dazed and Confused« (1993)
 
Linklaters Experimente mit der filmischen Zeit hatten begonnen. Seine Versuchsanordnungen in wechselnden Rahmungen kreisen immer wieder um Subkulturen, um das Erwachsenwerden, um eine Zukunft, die gerade begonnen hat, aber allzu undeutlich ist – von Slacker und Dazed and Confused über Suburbia (1997) und Ich & Orson Welles (2008) bis hin zum aktuellen Boyhood. Und es geht um Momente, in denen Entscheidungen mit weitreichenden Folgen getroffen werden, sei es in Sachen Liebe in den Before-Filmen oder Verbrechen im Kammerspiel Tape (2001), das das späte Nachspiel einer infamen Tat verhandelt. In Bernie (2011) ist es ein einziger fataler Moment der Gewalt, der für einen allseits beliebten, sanften Sonderling (Jack Black) alles verändert. Linklaters Sympathie gehört in jedem Fall den Verlierern, denen, die zur falschen Zeit die falsche Entscheidung treffen – und denen, die sich partout nicht entscheiden wollen. Sein tieferes Interesse jedoch zielt auf das Wesen des Augenblicks, der die Bahn in diese oder jene Richtung lenkt.
 
Zum Beispiel nach Hollywood. Nach seinen ersten Independent­erfolgen drehte Richard Linklater für 20th Century Fox 1998 die 27-Millionen-Produktion The Newton Boys – und landete einen herben Flop. So ist dieser Film heute fast schon vergessen, ganz zu Unrecht: The Newton Boys, basierend auf der wahren Geschichte von vier texanischen Bauernjungen, die in den 1920ern zu den erfolgreichsten Bankräubern ihrer Zeit wurden, ist ein prächtiges, mitreißendes Epochengemälde, ein Post-Western voller Sympathie für die Outlaws und dennoch differenziert in der Darstellung ihrer Selbstgerechtigkeit, ihrer Maßlosigkeit.
 
Traum ist Schicksal!
 
Nach diesem Rückschlag besann sich Linklater zunächst wieder auf kleine Filme. Er experimentierte mit der Rotoskopie-Technik, die Realaufnahmen von Schauspielern in Animationen umgestaltet. In dieser irritierenden Bilderwelt scheinen alle Figuren und Objekte wie auf einer unruhigen Wasseroberfläche zu treiben – die ideale Technik für seinen sehr persönlichen Essay Waking Life (2001), in dem er in Form eines nicht enden wollenden Traums – Dream is Destiny! – eine Fülle philosophischer Konzepte reflektiert, labyrinthisch und überraschend, somnambul und zugleich hellwach. Das Driften hat hier seine vollendete filmische Gestalt gefunden – alles fließt. In Waking Life wird das absolute Jetzt des Moments zur eigentlichen Hauptfigur: als mystischer Kristallisationspunkt alles Vorhergegangen und Folgenden, als eine Leerstelle, in der zugleich die ganze Fülle des Universums enthalten ist. »Eigentlich gibt es nur einen einzigen Augenblick, genau jetzt. Und der ist die Ewigkeit«, sagt Linklaters Zeichentrick-Alter-Ego. Ungleich düsterer griff Link­later die Rotoskopietechnik für seine Philip-K.-Dick-Verfilmung A Scanner Darkly 2006 wieder auf und verwandelte Stars wie Keanu Reeves, Woody Harrelson und Winona Ryder in animierte Drogenwracks, die die Suche nach dem ekstatischen Augenblick in einen unendlichen Alptraum der Paranoia stürzt. Die »blaue Blume«, bei Novalis Sehnsuchtssymbol für den Einklang mit dem Universum, ist hier eine psychoaktive Substanz, die das Individuum wie die Gesellschaft zerfrisst und verblödet.
 
»A Scanner Darkly« (2006)
 
Zwischen diesen Experimenten hatte Linklater aber bereits wieder mit Hollywood angebändelt und 2003 den enormen Erfolg School of Rock und 2005 Die Bären sind los gedreht. Das Umschalten zwischen Kunst und leichter Komödie scheint ihm völlig mühelos von der Hand zu gehen. Und es gelingt ihm immer wieder, beides zu vereinen: Bereits 1995 legte Before Sunrise, den er gemeinsam mit seinen Hauptdarstellern Ethan Hawke und Julie Delpy entwickelte, den Grundstein für etwas, das heute als Epos über Liebe und Zeit herausragt, obwohl es genau genommen antiepisch erzählt ist. Die zufällige Begegnung eines Amerikaners und einer Französin im Zug, ihre gemeinsam durchstreifte Nacht in Wien und ihr Aus­einandergehen am folgenden Morgen – wieder einmal geschieht alles innerhalb von 24 Stunden. Ob ihre Romanze eine Zukunft hat, bleibt im Ungewissen. Bis 2004 in Before Sunset, da sehen sich Jesse und Celine in Paris zum ersten Mal wieder und spazieren durch das Abendlicht, verbringen gerade mal 90 Minuten miteinander, die Linklater fast in Echtzeit erzählt. Und diesmal enden Begegnung und Film in noch kühnerer Offenheit. Im letzten Jahr stellte er dann Before Midnight vor, und wir begleiten dieses Paar, das nun schon lange zusammen ist, über 24 Stunden im Griechenlandurlaub, müde vom Alltag und den immer gleichen Konflikten. Gerade der Kontrast zwischen der Verdichtung in diesen Momentaufnahmen und den Jahrzehntsprüngen dazwischen, in denen die Darsteller mit ihren Rollen (und umgekehrt) gealtert sind, verleiht der Before-Trilogie ihre eigenartige Poesie. Das Vergehen der Zeit erhält eine funkelnde Tiefe zwischen dem filmisch fließenden Jetzt und dem Damals. 
 
»Boyhood« (2014)
Boyhood
, von dem kaum ein Berlinale-Besucher verstand, warum er statt eines Goldenen Bären nur den Silbernen Regiebären gewann, ist nun das konsequente Folgeexperiment in Linklaters Zeitforschungslabor, mit noch kühnerer Verdichtung. Seit 2002 drehte Linklater mit denselben Darstellern jedes Jahr etwa drei bis vier Tage lang an seiner großen Erzählung über das Erwachsenwerden eines texanischen Jungen. In 163 Minuten entfalten sich nun 12 Jahre, in denen Ellar Coltrane als Mason Szene für Szene zum jungen Mann wird, während Patricia Arquette als Mutter und Ethan Hawke als Vater langsam grauer werden. Ein unerbittlicher Zeitraffer läuft da, und doch sind in den Einzelszenen die Veränderungen der Menschen und ihrer Lebensumstände wie in Zeitlupe erfasst – und wie bei Linklater gewohnt in ruhigen, ungeheuer wahrhaftig wirkenden Alltagsszenen. Die Obsession des Filmemachers wird hier durch den Fluss der Bilder so eindringlich spürbar wie nie zuvor in seinem Werk: das geheimnisvolle Wirken der Zeit im unendlichen Augenblick des Lebens.

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