Kritik zu Bird

© MFA+ Filmdistribution

Andrea Arnold kehrt für eine Unterschicht-Milieustudie mit einer frühreifen Zwölfjährigen im Zentrum an die rauen Orte ihrer eigenen Herkunft südöstlich von London zurück

Bewertung: 3
Leserbewertung
0
Noch keine Bewertungen vorhanden

Nachdem Andrea Arnold sich in der Miniserie »I Love Dick« der texanischen Künstlerszene und in »Big Little Lies« der kalifornischen Upper Class angenommen hat, markiert ihr neuer Film »Bird« in doppelter Hinsicht eine Rückkehr. Thematisch zu den Jugend- und Working-Class-Erzählungen, mit denen sie bekannt wurde (»Fish Tank«, »American Honey«), geografisch zu ihrer Herkunftsregion südöstlich von London. »Bird« drehte sie in ihrer Heimatstadt Dartford und dem benachbarten Gravesend. Beide zählen zu den rauesten Ortschaften der Gegend. Hier lebt die zwölfjährige Hauptfigur Bailey (Nykiya Adams) in einem heruntergekommenen Wohnblock, zusammen mit ihrem jugendlichen Halbbruder Hunter (Jason Buda) und ihrem arbeitslosen Vater Bug (Barry Keoghan), den man mit seiner jungenhaften Erscheinung und den wilden Tattoos allerdings auch für einen großen Bruder halten könnte.

Bailey hingegen betrachtet ihren Vater zu Beginn des Films nur als übergriffigen Egoisten, der nichts von ihren Bedürfnissen versteht und nun plötzlich seine neue Freundin heiraten will – und zwar schon in einer Woche. Barry Keoghan findet in dieser Vaterfigur eine Paraderolle, und es gehört zu Andrea Arnolds humanistischer Sensibilität, Bug nicht einfach als prolligen Nichtsnutz zu porträtieren: In der gesellschaftlichen Hierarchie mag er das sein, was man gerne als »White Trash« bezeichnet, aber trotz manch negativer Ausfälle spürt man schnell, dass er im Kern ein sorgender Vater ist. Diese an Ken Loach erinnernde Figurennähe und Vielschichtigkeit zeigt sich auch sonst in Arnolds Schilderung dieser spezifisch britischen Unterschicht. Ihr Blick ist schonungslos, aber zärtlich, sie zeigt kleine Glücksmomente, wird aber nicht sentimental.

Das Zentrum der Geschichte bleibt dabei die zwölfjährige Bailey, von der Laiendarstellerin Nykiya Adams mit beeindruckender Souveränität verkörpert. Wir begleiten sie durch die Woche vor der Hochzeit ihres Vaters, die für das androgyne Mädchen zu einer ersten Selbstfindung führt – auch dies ein typisches Motiv bei Arnold, die immer auch von weiblicher Emanzipation und Identitätsfindung erzählt (bemerkenswerterweise wird Baileys Multiethnizität nie zum Thema, sondern bleibt selbstverständlich). Bailey hängt mit Freunden ab, besucht ihre verwahrloste Mutter und hilft Hunter bei seinen Beziehungsproblemen. Nebenbei erfährt man, dass Hunter mit seinen Freunden eine »Bürgerwehr« gegründet hat, um lokalen Übeltätern »Lektionen« zu erteilen: In einem Umfeld, wo staatliche Ordnung, elterliche Aufsicht und sinnstiftende Perspektiven praktisch nicht vorhanden sind, geben die Jugendlichen sich selbst einen Zweck.

Arnold reißt damit eine ganze Reihe von Themen an, die sie jedoch kaum weiterverfolgt. Alles bleibt ausschnitthaft, was der Perspektive und dem Erleben der jungen Hauptfigur entsprechen mag, die gemäß ihrem Alter von Moment zu Moment lebt. Doch es fehlt der Geschichte an dramaturgischer Dringlichkeit, und irgendwann fragt man sich, worum es Arnold jenseits der rahmengebenden Milieuschilderung eigentlich geht. Das bleibt auch so, als Bailey den Streuner Bird kennenlernt, einen melancholischen Paradiesvogel, von Franz Rogowski als ergänzendes Gegenstück zu Keoghans Bug angelegt. Er wird für sie zu einer Art bestem Freund. Wo Bailey mit ihrem Vater hadert, ist der rastlose Bird auf der Suche nach dem Seinen, und manchmal scheint es, als existiere er nur in Baileys Fantasie.

Tatsächlich mischt Arnold gegen Ende den Sozialrealismus mit einem magischen Realismus, der sich vorher in lyrischen Natur- und Tieraufnahmen à la Terrence Malick andeutet. Ein Vogelmotiv wird dabei zu einer – etwas forcierten – Coming-of-Age-Metapher. Doch plötzlich geht es auch um etwas, um familiären Zusammenhalt und ums Flüggewerden, um geteilte Sorgen und gemeinsames Feiern. So gelingt dem Film in den letzten Minuten doch noch, was er vorher nicht recht schaffte: uns zu berühren.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt