Mubi: »Cow«

englisch © Mubi

2021
Original-Titel: 
Cow
Heimkinostart: 
11.02.2022
V: 
L: 
94 Min
FSK: 
Ohne Angabe
Biografie eines Nutztiers

Als die Tiere den Stall verließen, um das Kino zu erobern. Oder so ähnlich. Waren es beim russischen Regie-Essayisten Wiktor Kossakowski die titelgebende Sau »Gunda« und ihr Nachwuchs, eingefangen auf einem speziell für Kameras präparierten Hof in erhabenstem Schwarz-Weiß, blickt Andrea Arnold in »Cow« auf eine Kuh. Name: Luma. Nummer: 29, eingebrannt auf der linken Pobacke, die in hektischen Momenten auch mal vorbeihuscht, meist aber eher im gemütlichen Rhythmus von Lumas Gang durchs Bild schaukelt.

Im Gegensatz zu Kossakowskis ästhetisierendem Stil zelebriert die britische Filmemacherin in »Cow« die naturalistische filmische Unmittelbarkeit. Kamerafrau Magda Kowalczyk klebt an Luma, ist so nah dran, dass man sogar durch ihr Ohrloch schauen kann und tief in ihre großen schwarzen Augen, mit denen sie zu Beginn in einem Moment des Auscheckens lange in die Kamera blickt. Auch Musik, wie man das aus ihren Spielfilmen, etwa dem flirrenden »American Honey« mit seinen Popsongs, kennt, gibt es in Arnolds erstem Dokumentarfilm nur am Rande. Blechern hallen einige Songs aus den Lautsprechern in diesem irgendwo in England gelegenen Hof. Ein Durchgangsort der Großproduktion: Einmal taucht ein Union-Jack-Heißluftballon am Himmel auf, zwischendurch Flugzeuge.

Luma ist Teil dieser menschengemachten Maschinerie, zuständig für die Milchproduktion und für den Nachwuchs. Wie sieht der Alltag des Nutztiers aus? Das ist es, was Arnold interessiert, und zwar immersiv aus Sicht der Kuh, die freilich als so exponiert platzierte Protagonistin nicht irgendeine Kuh bleibt. Sie ist – davon erzählt der ruhige Film fast ausschließlich über Bilder, die gelegentlich von den »Good Girl«- oder »Come on, girlies«-Rufen der Landwirte unterbrochen werden – eine eigene Type, eine Babybeschützerin, wie es ein Bauer einmal erklärt, auch wenn es um fremde Kälber geht.

Wir folgen dem Tier über den Hof, die Kamera auf ihrer Augenhöhe, manchmal im Gras, und lernen ihr Leben kennen. Zu Beginn ziehen die Landwirte ein Kalb aus ihr heraus, das die Mutter liebevoll abschleckt, bevor die beiden unter Lumas lautem Muhen getrennt werden. Die Perspektive wechselt in der ersten Filmhälfte immer wieder zum Kalb, eine Mutter-Kind-Geschichte und zugleich ein Spiegel dafür, in was für ein Leben das Junge hineingeboren wird. Während die Mutter zunächst mit einem baumelnden Stück Plazenta durch den Stall stapft, später über Wiesen und immer wieder hinein in den Melkkasten, wächst das Kalb: Der fremde, zitzenähnliche Gummisauger flutscht anfangs immer wieder aus dem Maul und klappert laut auf Holz, in einer drastischen Szene werden ihm die angehenden Hörner aus dem Schädel gebrannt.

Arnold gelingt der Spagat. Nüchtern und liebevoll blickt sie ausschließlich auf die Tiere, auf ihr hartes Leben, sie huldigt ihnen für das, was sie, angetrieben und ausgenutzt vom Menschen, leisten. Und doch ist »Cow« kein auf Schock setzender, aktivistischer Veganismusfilm geworden, sondern einer, der über Empathie und das Urkinematographischste überhaupt, das Zeigen, kommuniziert. Der große Diskurs über die kapitalistischen Regeln gehorchende Landwirtschaftsindustrie läuft am Rande mit, wie das auch bei Othmar Schmiderers Dokumentarfilm »Die Tage wie das Jahr« über ein Selbstversorgerdasein der Fall war. »Cow« ist dessen filmische Schwester im Geiste, erzählt aus Tierperspektive.

Arnolds Film erzählt vor allem auch die Geschichte von Luma. Wir beobachten sie beim Altern, bei einer weiteren Geburt, ihrer sechsten, wie wir erfahren. Vorangegangen war eine herrlich in Szene gesetzte Begattung: Luma und ein Bulle in einem Gehege, ein Paarungstanz in nächtlicher Dunkelheit, erleuchtet von in den Himmel sausenden Feuerwerksraketen, als er sie besteigt. Einmal schauen wir mit Luma zusammen während einer Nacht auf der Weide verträumt in den Sternenhimmel. Es sind Momente der Poesie in diesem ehrlichen Film, in dem Luma die Leinwand und das Herz erobert.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt