Kritik zu Averroès & Rosa Parks

© Grandfilm

2024
Original-Titel: 
Averroès & Rosa Parks
Filmstart in Deutschland: 
25.07.2024
L: 
143 Min
FSK: 
Ohne Angabe

2023 gewann der französische Dokumentarfilmer Nicolas Philibert mit »Sur l'Adamant« in Berlin den Goldenen Bären. Nun kommt eine Fortsetzung ins Kino, die fast monothematisch das therapeutische Gespräch ins Zentrum stellt

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Zum Abspann dieses Films gibt es eine aufs Schönste aus dem hymnischen Marschtrott gerückte in­strumental tänzelnde Version von Beethovens »Ode an die Freude«. Ähnlich ins Taumeln gebracht ist unsere scheinbar wohlgeordnete Wirklichkeit in den Erzählungen und Weltansichten der Klientinnen und Klienten des Hôpital Esquirol. Dessen altehrwürdige, riesige Anlage – die zu Anfang in einer Drohnenansicht eingeführt wird – wurde im 17. Jahrhundert im Tal der Marne vor den Toren von Paris als Hospiz für Kranke und Irre errichtet. Heute sind in dem verschachtelten Ensemble mit vielen Säulengängen und schönen Sitzgelegenheiten zwischen großen Bäumen und anderem Grün zwei nach »Averroès« und »Rosa Parks« benannte Abteilungen der Psychiatrie des Krankenhauses von Saint-Maurice bei Paris untergebracht.

Die betreibt auch die Tageseinrichtung auf dem Schiff »Adamant« in Paris, der Nicolas Philibert seinen letzten, mit dem goldenen Berlinale-Bären ausgezeichneten Dokumentarfilm gewidmet hatte. Jetzt geht er in die Klinik an Land, wo wir stationär dort lebende PatientInnen finden: Monsieur Obadia, der im Gespräch mit zwei ÄrztInnen den Übergang in einen selbstständigen Wohnraum vorbereitet. Eine suizidale junge Künstlerin. Ein Mann, der Ansteckung durch in Tschernobyl radioaktiv kontaminierte Flüchtlinge aus der Ukraine befürchtet und sich fragt, ob dies nun Hypersensitivität sei oder aufkommende Halluzinationen. Eine alte Dame beschimpft den Psychologen, der sich ihr widmet, als Idiot. Und ein ehemaliger Unidozent verzweifelt an der Unterwanderung Frankreichs durch Plutokratie und einem durch krassen Notenwahn zerstörten Bildungssystem. Ist sein Traum, einmal in Portugal eine alternativ-pädagogische Ausbildungsstätte in Sinne von Tagore oder Paolo Freire zu gründen, realistischer Zukunftsplan oder Wahnidee?

Auffällig oft ist in den Reden neben verstorbenen Wiedergängern, verlorenen Berufen oder materiellen und moralischen Schulden von der Philosophie die Rede, viele der PatientInnen sind belesen und haben sich näher mit Plato, Nietzsche oder Deleuze befasst. Wir sehen sie in den aufgezeichneten Gesprächen meist halb nah, oft mit Gegenschnitt auf Nachfragen der Ärztinnen und Ärzte. Die Dia- oder Trialoge sind auf Anerkennung und eine mögliche selbstständige Zukunft ausgerichtet und enden nach gegenseitiger Absprache, wenn nicht gerade mitten im intensiven Austausch das Diensthandy des Therapeuten klingelt und für Unruhe sorgt. Eine Erklärung gibt der Film nicht, doch in den Gesprächen ist auch der Mangel an Personal in Pflege und Beratung Thema. Vonseiten einiger PatientInnen wird sogar unterstellt, sie würden von der Klinik als Kompensation für solch fehlendes Personal unter verstärkte Medikation gesetzt. Ob das wahr ist oder paranoides Misstrauen, bleibt offen. Philibert jedenfalls gelingt mit der Montage der Patientengespräche die Kunst, über der Präsentation einer vorbildlichen therapeutischen Arbeit über Bande auch die Institution Psychiatrie und die sie tragende französische Gesellschaft höchst kritisch anzusprechen.

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