Kritik zu Zu jeder Zeit

© Mindjazz Pictures

2018
Original-Titel: 
De chaque instant
Filmstart in Deutschland: 
02.05.2019
L: 
105 Min
FSK: 
keine Beschränkung

Zuvor hat er Institutionen wie den Louvre, eine psychiatrische Anstalt, die Zwergschule in Sein und Haben oder die Pariser »Maison de la Radio« filmisch erkundet. Der Blick, den Nicolas Philibert nun auf das Lernkrankenhaus »La Croix Saint-Simon« in Montreuil wirft, ist anders

Bewertung: 4
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Zu Beginn ist das Alltägliche noch ein Abenteuer. Das Vertraute muss seine Selbstverständlichkeit erst wieder verlieren, bevor es zum Ritual werden darf. Sogar das Händewaschen müssen die Auszubildenden lernen. Einige von ihnen lächeln darüber, vielleicht vor Erstaunen oder aus Schüchternheit. Aber der Pfleger, der sie im Händewaschen unterweist, meint es ernst: Sieben Schritte müssen sie dabei einhalten, eine kleine Kunst.

Den gesamten Vorspann seines neuen Films lang lässt Nicolas Philibert also das Publikum zuschauen, wie eine banale Verrichtung einstudiert wird: zuerst ausführlich von einer Schwesternschülerin, dann sukzessive von ihren Kameraden. Sie müssen lernen, mit ihren Händen zu denken. Dieser Auftakt ist programmatisch, er weiht minutiös in einen von zahlreichen Handlungsabläufen ein, die sich im Lauf des Films zu einer Liturgie summieren. Philiberts Projekt besteht in der Aufwertung der profanen Gesten, die in diesem Beruf entscheidend sind. Es gibt so viel zu bedenken in ihm: Technische Fertigkeiten müssen erworben werden wie die Unterscheidung zwischen einer intravenösen und einer intramuskulären Injektion; aber auch soziale wie der richtige Umgang mit dem Körpergeruch von Patienten. »Zu jeder Zeit« ist eine schöne Apologie des Sinnvollen. 

Seine drei Kapitel sind nach Versen eines Gedichts von Yves Bonnefoy benannt, die in der deutschen Übersetzung einen Hauch prosaischer klingen. In »Das Flüchtige festhalten« geht es noch um die Simulation von Arbeitsprozessen; im zweiten »Im Dunkeln sehen« werden diese an Patienten, meist zuvorkommenden Versuchskaninchen, erprobt; im dritten »Das Unaussprechliche sagen, dem Endgültigen begegnen« tritt an Stelle der Geste das Wort, darin sprechen die Auszubildenden über die Erfahrungen, die sie während ihrer Praktika gesammelt haben. Dieser Teil schließt durchaus verblüffend an die Schule des Handwerks an, die Philibert zuvor mit gewährender, neugieriger Sachlichkeit filmte. In den Gesprächen mit den Mentoren offenbaren sich unterschiedliche Verletzbarkeiten, hier schafft der Film Raum für eine keineswegs fragile, sondern geschützte Intimität.

Er endet mit dieser Zwischenbilanz, folgt den Schülern nicht bis zum Abschluss ihrer Ausbildung. Er porträtiert sie auch nicht als Einzelfiguren, sondern schildert einen gleichsam choralen Lernprozess. Die Hoffnungen und Wünsche, das Zögern und der Widerstand der Praxis interessieren den Regisseur als gemeinschaftliche Erfahrungen. Anders als in seinen vorangegangenen Filmen porträtiert Philibert diesmal keine Institution, deren organisches Zusammenspiel ihn fasziniert. Das Krankenhaus ist in »Zu jeder Zeit« nicht mehr als eine Kulisse; seine Topografie ist ihm keine Totale wert. Philibert filmt es insgeheim als eine Bühne, auf der Handlungen vor Publikum demonstriert werden. Er begreift es als einen inspirierenden Rahmen. Nur einmal zeigt er ihn menschenleer, in einer knappen, poetischen Montage vom Stillleben der Puppen, an denen zuvor die Reanimation geübt wurde. 

Gleichwohl bleibt Philibert seinem Stil treu. Der Blick seiner Kamera ist diskret, in den Szenen mit den Patienten auch schamvoll; seine umsichtige Montage wird dem Facettenreichtum des einzuübenden Arbeitsalltags beinahe mühelos Herr. Dieser ist mehr als die Ausübung eines Metiers. Die angehenden Pfleger und Pflegerinnen würden ihn zwar noch nicht eine Berufung nennen. Aber das dritte Kapitel, in dem sie sich Rechenschaft ablegen müssen über Gelingen und Scheitern, über beglückende und schmerzliche Erlebnisse, verdichtet sich zu einer Chronik der Hingabe. Zwei Perspektiven kommen hier zu ihrem Recht: die Frage nach den Bedürfnissen der Patienten und denen der Schüler. Die Gespräche sind ein Ansporn, sich die Sensibilität zu erhalten. Gleichviel, wie die jeweilige Bilanz ausfällt – von keinem Mitglied dieser Klasse kann man sich vorstellen, dass es die Ausbildung abbrechen wird.

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