Kritik zu Alles steht Kopf

© Disney

Lachen unter Tränen: die neue Produktion aus dem Hause Pixar-Disney besticht durch Einfallsreichtum und Witzigkeit – und hat auch noch eine so bedeutungsvolle wie anrührende Botschaft: Man darf auch mal traurig sein. Aber ein Film wie dieser würde einen auch jederzeit wieder aufheitern

Bewertung: 5
Leserbewertung
4.666665
4.7 (Stimmen: 3)

Da wäre zum Beispiel die Sache mit dem eingebildeten Freund. Nicht alle erinnern sich daran, selbst einen gehabt zu haben, als sie klein waren. Was nicht heißen muss, dass es sie nicht gegeben hat, denn vielleicht ist es denen ja so ergangen wie der Figur Bing-Bong in »Alles steht Kopf«: Sie sind auf der Müllhalde des Vergessens gelandet, einem Ort, von dem keiner zurückkehrt . . . Äußerlich ist Bing-Bong eine typische Animationsfilmkreatur, knallbunt, ein Hybrid zwischen Mensch, Tier und Süßigkeit. Er sieht sicher keinem der imaginären Freunde ähnlich, die ein hiesiger Kinozuschauer gehabt haben mag. Und trotzdem erkennt man ihn sofort. Und darin liegt der ganz besondere Zauber dieses Films: dass er von so abstrakten Dingen handelt wie Gemütszuständen und Erinnerungsorganisation, und dass gleichzeitig alles augenblicklich einleuchtend und verständlich erscheint.

In der Rahmenhandlung von »Alles steht Kopf« geht es um ein Mädchen namens Riley, das als glückliches Kind die Welt begreifen lernt. Bis sie als Elfjährige in eine erste ernsthafte Krise gerät, als ihre Eltern mit ihr von Minnesota nach San Francisco ziehen. In der neuen Schule findet sie nicht so schnell Anschluss, ihre Eltern sind im Umzugsstress und haben nur wenig Zeit für sie. Die eigentliche Handlung aber spielt sich derweil in ihrem Innern, ihrem Gemüt ab. Dort leisten fünf Gestalten mit unterschiedlichen Aufgaben ihren Dienst: Freude, mit sonnengelbem Kleid und blauen Haaren, gibt den Ton an, immer optimistisch, immer lösungsorientiert, das dominante Element. Ekel, grünlich und zickig, Ärger, rot und breit, und Angst, grau und vorsichtig, gehen ihr zur Hand. Und dann gibt es noch Kummer, blau und langsam. »Ich weiß auch nicht, was sie eigentlich hier soll«, sagt Freude einmal über Kummer, die als ewige Spaßverderberin auftritt. Das aber bildet den eigentlichen roten Faden des Films: Zusammen mit all den seltsamen Gestalten, sei es den menschlichen Figuren oder den metaphorischen, zu begreifen, welch produktive Rolle Kummer und Traurigkeit im Leben haben.

Das klingt nach hartem, fast allzu ernsten Stoff für einen Pixar-Disney-Film. Regie führte (zusammen mit Ronaldo Del Carmen) der bewährte Pixar-Mann Pete Docter, aus dessen Feder bereits die Originalgeschichte zu »Toy Story« stammte. Mit »Die Monster AG«, in dem mit Schrecken Energie gewonnen wurde, und »Oben«, der die Erinnerungen eines alten Mannes nachzeichnete, hat Docter schon gezeigt, wie abstrakt und erwachsen das Genre daherkommen kann, ohne dass auf Spaß verzichtet werden müsste.

Denn trotz seiner bedeutungsvollen Botschaft gleicht der Film einer wilden Vergnügungsparkreise, bei der aber nicht nur die Sinne, sondern eben auch der Geist herausgefordert werden. Kein Animationsfilm der letzten Jahre war gestalterisch so einfallsreich. Die Welt, die hier entworfen wird, das »Gemüt« des Mädchens, ist reine Fantasie mit Lebensweltanalogien, die oft ungeheuer »witzig« sind. Da gibt es die Kommandozentrale, die natürlich an diverse Raumschiffe erinnert. Es gibt die fliegenden Inseln, die die Wesenszüge des Mädchens wie »Sinn für Blödsinn«, »Freundschaft« und »Familie« verkörpern. Und das gigantische Archiv, das das Gedächtnis versinnbildlicht, mit meterhohen Regalen voller farbiger, kugelförmiger Erinnerungen. Dort treffen Freude und Kummer, die es aus der Kommandozentrale herausschleuderte und die nun den Weg zurückfinden müssen, unter anderem auf zwei schweigsame Typen mit Staubsaugern. Die lassen so manche Kugel einfach ganz verschwinden. Mit anderen aber, bevorzugt mit nervigen Melodien, erlauben sie sich einen besonderen Spaß und schicken sie ins Bewusstsein zurück: Eine charmantere Illus­tration des Phänomens »Ohrwurm« hat es im Kino noch nicht gegeben. Überhaupt: Von der »Traumfabrik« bis zum »Gedächtniszug« gibt es eine Fülle an originellen Einfällen zu entdecken, für die sich dringend ein zweiter Kinobesuch empfiehlt.

... zum Interview mit Regisseur Pete Docter und Produzent Jonas Rivera

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt