Kritik zu Alles außer gewöhnlich
Mit ihrem Blockbuster »Ziemlich beste Freunde« haben sich Éric Toledano und Olivier Nakache als Meister der hintergründigen Gesellschaftskomödie etabliert. Ihr neuer Film ist eine Hommage an den Optimismus
Es wird viel gerannt in diesem Film. Er handelt von Situationen, die dringlich sind, von Krisen, die rasch bewältigt werden müssen. Es steckt aber Zuversicht in dem Tempo, das »Alles außer gewöhnlich« anschlägt.
Seine Hauptfigur stellt er im Laufschritt vor. Bruno (Vincent Cassel) rennt durch eine Metro-Station, betritt hastig das dortige Polizeirevier. Er wurde zu einem Notfall gerufen. Joseph (Benjamin Lesieur) hat die Notbremse gezogen; nicht zum ersten Mal. Gegen die Festnahme hat er sich heftig gewehrt, einen der Beamten soll er gar gebissen haben. Bruno vermittelt zwischen den Parteien. Er hat Übung darin, man könnte auch sagen: Er versteht es, Leute einzuwickeln.
Er ist ein Mensch, der immer in Eile ist, aber stets Zeit findet. Als Gründer des Vereins »La voix des justes« muss er jederzeit verfügbar sein. Seine Organisation betreut jugendliche Autisten, übernimmt auch die ganz schweren Fälle, die sonst von staatlichen Institutionen ausgesondert werden. Für viele Familien ist Bruno die letzte Zuflucht. Alle Welt richtet Wünsche und Forderungen an ihn. Er hat ein Ohr für sie. Auch wenn die Lage aussichtslos scheint, hat er eine Antwort parat. Meist lautet sie »Ich finde eine Lösung«. Ebenso gern sagt er: »Wir sind nahe dran.«
Die Überforderung ist für ihn der Dauerzustand, nein: sein Lebenselement. Er meistert es mit heiterer Unerbittlichkeit: Diese Aufgabe hat ihren Preis und ihren Lohn. Allerdings ist ihm sein Freund Malik (Reda Kateb) auch eine zuverlässige Stütze. Er leitet den Verein »L'escale« (auch dies ein schöner Name: die Zwischenlandung), der dieselbe Aufgabe erfüllt und dem es ebenso an institutioneller Verankerung fehlt. (Ihre Methoden werden vom Gesundheitsministerium mit Argwohn verfolgt; Bruno sitzen zwei höfliche, aber unerbittliche Inspektoren im Nacken.) Der Arbeitsalltag wird von anarchischem Elan getragen. Die zwei haben ein System der Einzelbetreuung etabliert und ihre Teams in sozialen Brennpunkten rekrutiert. Nicht nur der Dienst ihrer Mitarbeiter, auch deren Leben soll eine Struktur bekommen. Malik muss übrigens weniger rennen als sein Freund; er ist eigentlich immer zur Stelle, wenn er gebraucht wird.
Der Film macht kein Aufheben darum, dass Bruno ein Kippa tragender Jude und sein Partner ein praktizierender Muslim ist; er nimmt die Vielfalt der Gesellschaft als deren selbstverständliche Daseinsgrundlage. Seine Helden und ihre Darsteller sind ein treffliches Gespann, um das Éric Toledano und Olivier Nakache ein lebhaftes Figurenensemble versammeln. Neben dem Erzählstrang um Joseph nimmt ihr Drehbuch eine weitere, spannungsvolle Beziehung in den Blick: die zwischen dem Betreuer Dylan (Bryan Mialoundama), der seinen Weg finden will, und dem dreizehnjährigen Valentin (Marco Locatelli), dessen Gewaltausbrüche eine unkalkulierbare Gefahr für sich und seine Umgebung sind. Wie sehr fiebert man dem Moment entgegen, in dem er endlich seinen Schutzhelm abnehmen darf! Regelmäßig macht der Film sich seine Perspektive zu eigen, lässt akustisch und visuell nachempfinden, wie fremd sich die Welt für den jungen Autisten anfühlt.
Der Originaltitel »Hors normes« stellt Patienten wie Betreuer gleichermaßen außerhalb der gesellschaftlichen Konventionen. Das ist in den Augen der Regisseure ein poetisches Vorrecht. Sie sind allesamt wackere Alltagshelden und wirken umso heroischer, als nie eine Klage über ihre Lippen kommt. Die Atmosphäre tätigen Wohlwollens, die sie beschwören, ist eine Utopie, die vom Eindruck des Erlebten beglaubigt wird. Bruno und Malik haben reale Vorbilder, mit denen Toledano und Nakache seit Jahrzehnten freundschaftlich verbunden sind und über die sie bereits einen Dokumentarfilm gedreht haben. Im Abspann sind Stéphane Benhamou und Daoud Tatou zu sehen. Benhamous Verein heißt in Wahrheit »Le silence des justes«. Im Film haben die Gerechten eine Stimme.
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