Kritik zu All We Imagine as Light

© Rapid Eye Movies

Im Wettbewerb von Cannes in diesem Jahr erhielt Payal Kapadia, als indische Regisseurin ­überhaupt zum ersten Mal im Wettbewerb vertreten, den Grand Prix der Jury. Ihr Film ist eine Ode an weibliche Solidarität und eine ambivalente Liebeserklärung an ihre Heimatstadt Mumbai

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Die nächtlichen Straßen von Mumbai, auf dem Bordstein stapeln sich Säcke mit Lebensmitteln, Männer hieven Kisten, Lieferwägen bringen neue Ware, Frauen sortieren Kleidung. Der Kamerablick dokumentiert das Treiben, daran vorbeistreifend. Ein Mann erzählt aus dem Off, dass er seit 23 Jahren hier lebt, aber es noch immer nicht Zuhause nennen mag. Weil er Angst hat, wieder gehen zu müssen. Ein anderer erinnert sich, in seiner ersten Unterkunft habe es so schlimm gerochen, dass er kaum schlafen konnte. Eine Frau sagt, sie habe ihre Schwangerschaft verheimlicht, um ihre Stelle als Hausmädchen nicht zu riskieren. 

Namenlose Migranten und Landflüchtige, die sich in Mumbai ein besseres Leben erhofften. Und während sich auf den Straßen mehr und mehr Menschen und Autos drängen, wechselt der Blick ins Innere der überfüllten Züge, vom Panorama auf einzelne Gesichter, bis er bei einer Frau, die im traditionellen Sari im Abteil an einer Stange steht, zur Ruhe kommt, während draußen die Stadt vorbeirauscht. Es ist Prabha, eine Krankenschwester auf dem Weg von der Schicht nach Hause. Ihr wird sich dieser Film, der so stimmungsvoll schillernd begann, die nächsten Stunden widmen. Und vom fast Dokumentarischen sanft zur lyrischen Fiktion übergleiten, ohne die Lebensrealitäten in der indischen Millionenmetropole aus den Augen zu verlieren. 

Mit ihrem Spielfilmdebüt »All We Imagine as Light« ist der 38-jährigen Payal Kapadia eine widerspenstige und ambivalente Liebeserklärung an ihre Heimatstadt gelungen, in deren schäbigsten Ecken sie noch das Schöne entdeckt. Und zugleich ist es ein Porträt weiblicher Solidarität, die trotz oder gerade wegen widriger Umstände erblüht.

Prabha (Kani Kusruti) kümmert sich um alle. In ihrem Job als erfahrene Krankenschwester um die Patienten im Hospital von Mumbai. Aber auch im Privaten. Ihre junge Kollegin Anu (Divya Prabha) hat sie bei sich in der kleinen Wohnung aufgenommen. Auch wenn deren Miete oft zu spät kommt und sie auch sonst etwas unberechenbar ist. Beide stammen aus Kerala, dem südlichsten Bundesstaat, und sprechen Malayalam miteinander. Anu liebt ihre Freiheit, von ihrem heimlichen Liebhaber soll niemand etwas wissen, vor allem nicht ihre Eltern, denn Shiaz (Hrdhu Haroon) ist Muslim. Auch Prabhas ältere Freundin, die verwitwete Parvaty (Chhaya Kadam) arbeitet im Krankenhaus, als Köchin. Als sie aus ihrem Apartment zu fliegen droht, weil ihr nach dem Tod ihres Mannes die notwendigen Dokumente fehlen, fühlt sich Prabha auch hier verantwortlich. Dabei hat sie selbst genug um die Ohren. Ihr Mann war kurz nach der Heirat nach Deutschland ausgewandert, um dort in einer Fabrik zu arbeiten. Der Kontakt ist seitdem abgebrochen. Nun kommt ein anonymes Paket mit einem Reiskocher made in Germany und Prabha weiß nicht, ob es ein Hoffnung machendes Lebenszeichen oder ein gefühlloser Abschiedsgruß sein soll. Und dann ist da noch der junge Arzt Dr. Manoj (Azees Nedumangad), der sich sehr für sie interessiert und ihr Selbstgebackenes und Liebesgedichte mitbringt . . .

Drei Frauen dreier Generationen stehen im Zentrum von »All We Imagine as Light«, in dem Kapadia unaufgeregt und subtil vom prekären Alltag, den sozialen und religiösen Unterschieden und strengen Normen der patriarchalen Gesellschaft erzählt. Und von Mumbai, das oft »Stadt der Träume« genannt wird und sich doch allzu oft als Stadt der Illusionen herausstellt, wie es an einer Stelle heißt. Nach dem preisgekrönten Doku-Essay »A Night of Knowing Nothing« (2021) erhielt Kapadia für »All We Imagine as Light«, ihren zweiten Langfilm, als erste indische Regisseurin überhaupt im Wettbewerb des Festivals von Cannes gleich den Grand Prix. 

Gemeinsam fährt das Trio in Parvatys Heimatdorf an der Küste. Hier öffnet sich der Realismus des ersten Teils zu einem Gegenentwurf, in dem viel mehr möglich scheint an Freiheit, Verständnis und weiblicher Solidarität und auch das Magische seinen Platz hat. 

Dabei ist Kapadias Film alles andere als eskapistisch, er thematisiert deutlich die ökonomischen Zwänge Zugewanderter, das System aus Kasten und Religionen, arrangierte Ehen, die Auswüchse der Gentrifizierung, nicht gewürdigte und schlecht bezahlte Care-Arbeit. All das schwingt mit, Kapadia inszeniert keinen Thesenfilm um der Botschaften willen, dafür sind ihr diese Frauenfiguren zu wertvoll, ihre Freundschaft und Solidarität, auch die romantische Liebe, die ihnen begegnet und die eine Form des Widerstands werden kann. Von all dem erzählt Kapadia sinnlich und mit einer gewissen Melancholie. Der Film deutet eher an als auszubuchstabieren, spielt mit Farben und Licht, Formen und Geräuschen und lässt uns mehr über Bilder und Töne als über Dialoge am Denken und Fühlen dieser drei Frauen teilhaben, die einem ans Herz wachsen. Und in deren gemeinsamem Aufbegehren auch die Hoffnung eines Landes auf Veränderung zu spüren ist.

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