Netflix: »The Piano Lesson«

englisch © Netflix

Zwiespältiges Erbe

Der Film ist ein veritables Familienprojekt: Als Produzent von »The Piano Lesson« zeichnet Denzel Washington verantwortlich, als Regisseur und Co-Autor sein Sohn Malcolm, der damit sein Filmdebüt gibt. Die männliche Hauptrolle wiederum spielt Malcolms älterer Bruder John David Washington, den man vor allem aus »Tenet« kennt. Vom nepotistischen Eitelkeitsprojekt einer Hollywood-Adelsfamilie kann indes keine Rede sein. »The Piano Lesson«, basierend auf dem gleichnamigen Bühnenstück von August Wilson, ist ein ebenso ambitioniertes wie bescheidenes Regiedebüt.

Ein Prolog zeigt die Provinz von Mississippi im Jahr 1911. Ein paar afroamerikanische Männer schleppen bei Dunkelheit eilig ein Klavier aus einem großen Haus. Kurz darauf wird einer von ihnen in seiner Hütte von einem weißen Lynchmob heimgesucht. Die eigentliche Erzählung setzt 25 Jahre später ein. Das Klavier steht mittlerweile im Haus von Berniece (Danielle Deadwyler), der Tochter des Mannes in der Hütte. Sie lebt mit ihrem Onkel (Samuel L. Jackson) schon lange in Pittsburgh und ist alleinerziehende Mutter einer Tochter. Nun taucht überraschend ihr Bruder Boy Willie (John David Washington) aus Mississippi auf, ein aufbrausender Gaunertyp, den Berniece für den Tod ihres Mannes verantwortlich macht. Er hat es auf das Klavier abgesehen, das er gegen den Willen seiner Schwester verkaufen möchte, um mit dem Erlös ein Stück Land zu erwerben.

Bis hierin wirkt »The Piano Lesson« wie eine klassische Familiengeschichte mit allerlei verdrängten Konflikten und teils erstaunlich klischeehaften Schwarzen Charakteren. Wenn Letztere trotzdem als »Typen« glaubhaft bleiben, verdankt sich das den durchweg hervorragenden Schauspielern und weniger der Regie, die man wahlweise gediegen oder bieder finden kann. Eine ästhetische Übersetzung des Bühnenstücks in eine filmische Vision gelingt Washington nicht, sein Film sieht in vielen Szenen wie abgefilmtes Theater aus.

An der inhaltlichen Kraft und Relevanz des Stoffs ändert das nichts. Der Geschwisterkonflikt in »The Piano Lesson« wird zum Spiegel der »Black Experience« im Amerika der letzten hundert Jahre, eine Erfahrung, die bis heute von strukturellem Rassismus und den traumatischen Nachwirkungen der Sklaverei geprägt ist. Der Streit um das Piano bildet dabei den dramaturgischen Herzschlag, denn er steht auf kluge Weise für die unterschiedlichen Haltungen im Umgang mit der Schwarzen Historie. Während das Musikinstrument für Berniece ein Symbol des Gedenkens an ihre versklavte Familie darstellt, möchte Willie ebendiese Unterdrückungsgeschichte mit dem Verkauf in einen Akt der Ermächtigung verwandeln: Mit dem Erlös will er Land jener weißen Familie kaufen, der seine Vorfahren als Sklaven dienten – und der sein Vater 1911 das Piano stahl. Das sind gewichtige Themen, und der Geist des Rassismus schwebt im Wortsinne über allem. Am Ende helfen nur ein Wachhalten der Erinnerung und ein Zusammenhalten von Familie und Community. »The Piano Lesson« mag 1936 spielen, doch die Lehren gelten bis heute.

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