Streaming-Tipp: »Emily the Criminal«
»Emily the Criminal« gehört in Sachen deutscher Auswertung zu jenen Fällen, bei denen man sich als Kinogänger nur wundern kann. In den USA wurde der Film von der Kritik gefeiert und mehrfach preisgekrönt, beim Filmfestival im französischen Deauville gewann er letztes Jahr den Publikumspreis. Trotzdem fand sich hierzulande kein Kinoverleih. Nun ist der Film immerhin bei verschiedenen Streaminganbietern verfügbar, eine Independent-Perle, die aufzuspüren lohnt.
Das Kinodebüt von John Patton Ford erinnert im besten Sinne an das amerikanische Kino der Siebziger, an Filme wie Ulu Grosbards »Straight Time«, rau und »street smart«, mit einer Protagonistin, die man nicht mögen muss, um mit ihr zu fiebern. Ford selbst nannte »Good Time« von den Safdie-Brüdern und Fatih Akins »Gegen die Wand« als Referenzpunkte. Auch das passt.
Der Film hält sich nicht mit einer Exposition auf, sondern wirft den Zuschauer direkt ins Geschehen: Emily, eine ehemalige Kunststudentin in L.A., sitzt zum Bewerbungsgespräch in einem muffigen kleinen Büro. Die Kamera bleibt während der Szene, die mehr Verhör als Einstellungsgespräch ist, starr auf sie gerichtet. Ihr Gegenüber sieht man nicht, man hört jedoch, wie der Mann sie in ruhigem Tonfall mit Fangfragen zu ihren Vorstrafen in die Enge treibt. Man meint seine Befriedigung bei diesem Machtspiel herauszuhören. Zunächst windet Emily sich, doch dann wechselt ihr Blick innerhalb eines Wimpernschlags von Weichheit zu Wut. Sie konfrontiert den Personaler mit seiner demütigenden Hinterhältigkeit – und geht.
Mit selten gewordener Effizienz werden hier innerhalb weniger Minuten sowohl die Themen als auch die Hauptfigur des Films auf den Punkt gebracht. Es geht in »Emily the Criminal« um Arbeitskraft, Ausbeutung und die Auswüchse einer typisch amerikanischen Form »freier Marktwirtschaft«; und es geht mit Emily um eine Frau, deren Bewegungsspielraum in diesem System von ihrer »Akte« brutal eingeschränkt wird, die darauf aber nicht defensiv reagiert, sondern mit zornigem Widerstand. Dennoch (oder deshalb?) bleibt ihr zur Existenzsicherung bald nur noch die Illegalität. Der Titel des Films gewinnt dabei eine clevere Doppeldeutigkeit, denn für potenzielle Arbeitgeber ist Emily von vornherein jene »Kriminelle«, zu der sie genau deshalb wird.
Auch im weiteren Verlauf erzählt Ford seine Geschichte in gut neunzig Minuten mit einer Knackigkeit, die man heute kaum mehr gewohnt ist. Es geht Schlag auf Schlag, wir erfahren, dass Emily in einer beengten WG lebt, bei einem Caterer Schichten schiebt und ihren Studienkredit von 70 000 Dollar unter diesen Umständen niemals abstottern kann.
Durch die Vermittlung eines Kollegen beginnt sie schließlich für eine familiäre Bande professioneller Kreditkartenbetrüger zu arbeiten. Emily wird Teil einer ganzen Armada an »Dummie-Kunden«, die mit gefälschten Kreditkarten teure Güter einkaufen, die dann zu Geld gemacht werden – der Schwarzmarkt ist schließlich auch ein Markt. Emily erweist sich im Austricksen der Konsumgesellschaft als so abgebrüht, dass sie bald ihr eigenes Geschäft aufzieht.
»Emily the Criminal« fasziniert mit seiner ebenso beiläufigen wie präzisen Schilderung prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse, denen er eine kriminelle Parallelwelt gegenüberstellt, die in ihrer nüchternen Alltäglichkeit wie ein kapitalistischer Mikrokosmos wirkt: Zocke den anderen ab, bevor er dich abzockt. Als Sozialdrama hat der Film einen fast dokumentarischen Gestus, in den Thrillermomenten, allen voran eine fantastisch choreographierte kurze Autoverfolgung, bleibt er immer glaubwürdig. Und mit Aubrey Plaza, die hierzulande vor allem aus der zweiten Staffel von »The White Lotus« bekannt ist, hat Patton Ford eine brillante Hauptdarstellerin, die Emilys Fuck-you-Attitüde nachvollziehbar macht, ohne um Sympathien zu buhlen. Ihre Kaltschnäuzigkeit ist bewundernswert, aber auch erschreckend. Am Ende muss man Emily als Teil eines Systems betrachten, mit dem sie immer besser zu spielen lernt.
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