Netflix: »Der denkwürdige Fall des Mr. Poe«
Ein ebenso rätselhafter wie schockierender Mord versetzt 1830 die renommierte West-Point-Militärakademie in Aufruhr: Einer der Kadetten wurde an einem Baum aufgeknüpft. Der oder die Täter schnitten dem Opfer das Herz heraus: ein Verbrechen aus Leidenschaft oder ein Ritualmord? Um das Ansehen der Akademie zu wahren, soll der makabere Fall möglichst geräuschlos aufgeklärt werden. Augustus Landor (Christian Bale), ein kauziger Einzelgänger, der in einer abgelegenen Hütte haust, erhält alle Freiheiten, um als Zivilist innerhalb der Militärakademie zu ermitteln. Ein zweiter Mord, verübt nach dem gleichen Muster, setzt den Detektiv alsbald unter Druck.
Regisseur Scott Cooper, der mit dem Rachedrama »Auge um Auge« und dem Western »Feinde – Hostiles« keine allzu tiefen Spuren in der Filmgeschichte hinterließ, setzt in diesem Mystery-Krimi vor allem auf die Atmosphäre. Schauplatz ist die von einer verschneiten Winterlandschaft umgebene Akademie, eine isolierte Welt abseits der großen Städte. Mit vergleichsweise geringem Aufwand versetzt die Inszenierung den Betrachter zurück ins 19. Jahrhundert. In den Regalen stehen Bücher, deren abgegriffene Ledereinbände man zu riechen meint. Und wie in Kubricks stilbildendem Meisterwerk »Barry Lyndon« werden Innenräume nicht mit elektrischen Lampen erhellt. Der Widerschein brennender Kerzen, deren Wachs auf die Holztische tropft, taucht die Innenräume in ein diffuses Licht.
Dieser Effekt verbraucht sich relativ rasch. Auch der bärtige Christian Bale – der zwar ein begnadeter Darsteller ist, hier jedoch zu Manierismen neigt –, wirkt ein wenig so, als müsste er Lücken in der filmischen Konzeption überspielen. Spannend und originell ist dagegen das Wechselspiel zwischen dem Ermittler Landor und einem versponnenen Kadetten (Harry Melling), dessen Physiognomie täuschend echt an die des Schriftstellers Edgar Allan Poe erinnert.
Die 2003 erschienene Bestseller-Vorlage »The Pale Blue Eye« des US-amerikanischen Autors Louis Bayard ist eine um die Ecke gedachte Hommage an Edgar Allan Poe, der tatsächlich an der West-Point-Akademie angenommen (und später von ihr verwiesen) wurde. Um dieses Faktum herum wird eine fiktive Biografie gesponnen, die damit spielt, dass der 20-jährige Poe seinen Stil noch nicht gefunden hat. Er rezitiert ein Gedicht, das vom Tonfall her ein wenig an den authentischen Poe erinnert. Vor allem aber betätigt er sich als einfältiger Amateurdetektiv, der dem abgebrühten Ermittler Landor als eine Art Profiler zur Seite steht.
Der Versuch, die typische Edgar-Allan-Poe-Stimmung zu beschwören, glückt nicht so ganz. Die für Poe charakteristische Gratwanderung zwischen mystischer Anmutung und rationaler Erklärung funktioniert als Retrostück nicht wirklich. Auch Gillian Anderson als Ehefrau eines überforderten Pathologen und Charlotte Gainsbourg, die als Barfrau eine Affäre mit Landor beginnt, vermögen keine Akzente zu setzen.
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