Buch-Tipp: Tobias Dietrich, Winfried Pauleit – Kopf/Kino
Von »Sunset Boulevard« bis »Einer flog über das Kuckucksnest«: Das Motiv psychischer Erkrankungen ist dem Film geläufig. Eine Übersicht über mannigfaltige Abweichungen und das Anderssein auf der Leinwand wollen Tobias Dietrich und Winfried Pauleit mit der Aufsatzsammlung »Kopf/Kino« zu diesem Thema gar nicht vorlegen. In elf Abhandlungen erproben fünfzehn Autoren neue Zugänge zu einem alten Grundproblem: Seelische Erkrankungen und psychische Störungen offenbaren sich selten durch körperlich sichtbare Symptome. Wie also macht das Kino als genuin visuelles Medium unsichtbares Leiden erfahrbar?
Die Antworten fallen unterschiedlich aus. In seiner Interpretation von Richard Linklaters »A Scanner Darkly« richtet Markus Kügle den Fokus auf die exponierte Form des Films. Die Philip-K.-Dick-Adaption wurde zunächst mit realen Schauspielern gedreht und nachträglich rotoskopiert. Der Autor sieht einen Zusammenhang zwischen dieser besonderen Gestaltung und jener psychotischen Wahrnehmungsweise, die der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan untersuchte. Unter anderem hob Lacan hervor, dass in der Weltwahrnehmung des psychotischen Subjekts Realität und Halluzination ununterscheidbar werden. »Im übertragenen Sinn«, so Kügle, »kann die Rotoskopie selbst auch als ein schizophrenes Verfahren betrachtet werden, ist sie doch ein oszillierender Hybrid aus Animations- und Realfilm, welcher über eine künstlich-echte Ambiguität verfügt.«
Die These, wonach der rotoskopierte Film die Wahrnehmungsweise des psychotischen Subjekts imitiert – so dass der Kinobetrachter gewissermaßen durch die Augen des Wahnsinnigen schaut –, ist anregend und spannend. Sie wirft aber Fragen auf. Ist die hybride Überlagerung von Realfilm und Animation für den Betrachter eines rotoskopierten Films nicht in jedem Bild als solche erkennbar? Verfügt der rotoskopierte Film somit – im Gegensatz zum Wahnsinnigen – nicht über einen verlässlichen ›Marker‹, der dem Betrachter die Unterscheidung zwischen authentischer und halluzinierter Realität anzeigt? Die These, wonach »die Rotoskopie als adäquate Visualisierungs-strategie von Psychosen zu ›betrachten‹ sei«, müsste man ausdiskutieren.
Wie Kügle greift Lars Nowak bei seinen Betrachtungen von Cronenbergs »Naked Lunch« und »eXistenZ« auf Jacques Lacans komplexe Freud-Rezeption zurück. Nowaks These, wonach nicht nur die Protagonisten verrückt sind, sondern die filmische Fiktion selbst »Züge eines psychotischen Textes« annimmt, erscheint tragfähig. Was Psychoanalyse zu leisten vermag, zeigt Insa Härtel mit ihrer Lesart von Edward Zwicks »Love & Other Drugs«. In dieser Mischung aus Klamotte, Erotik-Farce und Satire auf die Pharmaindustrie kollidiert die vermeintlich ewige Viagra-Erektion des Helden mit dem todkranken Körper seiner Freundin. Worauf seine potente Unverwüstlichkeit schlapp- und der Liebe Platz macht. Dass dabei der Film selbst infolge unbeabsichtigter Stilbrüche »schlappmacht« (wie die Kritik mehr oder weniger einhellig monierte), »stellt sich als seine aussichtsreichste Qualität heraus«. Nicht inhaltlich, sondern formal vermittelt sich die »Botschaft« des Scheiterns. Diese Lesart überzeugt. Wie die meisten Lesarten in diesem anregenden Band.
Tobias Dietrich/Winfried Pauleit: Kopf / Kino. Psychische Erkrankung und Film. Bertz + Fischer, Berlin 2022. 176 S., 20 €.
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