Kritik zu eXistenZ
Dass die Welt, wie wir sie kennen, ein einziges, großes Computerspiel sei, eine von übelwollenden Außerirdischen erstellte Simulation, die uns Erdenbewohner über unsere armselige Sklavenexistenz hinwegtäuscht, war die Vision von The Matrix. Das Szenario von eXistenZ beruht auf biotechnologischen Gedankenspielen, die insgesamt etwas wahrscheinlicher sein dürften. Die brillante Game-Designerin Allegra Geller (Jennifer Jason Leigh) stellt zu Beginn ein Computerspiel vor, dessen Realitätseffekte alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen. Leinwand, Monitor oder jede andere apparative Vermittlung der virtuellen Realität wird überflüssig, weil das Spiel direkt ins Nervensystem der Spieler geladen wird, die nun mit jeder Faser ihres Körpers an "eXistenZ", so der Name des Spiels, beteiligt sind.
Cronenberg, an dem wirklich ein Erfinder verloren gegangen ist, hat diese Technikfantasie mit der bei ihm üblichen Akribie durchgespielt. Als sei das ganze System bei jedem x-beliebigen Hardwarehändler zu erwerben, verfügen die einzelnen Komponenten über ordentliche Typenbezeichnungen. Die Spielekonsolen heißen Game-Pod; das Kabel, das Spieler mit ihr verbindet, nennt sich, in Anlehnung an das Wort Nabelschnur, UmbyCord; die Öffnung schließlich, die den Menschen in die Wirbelsäule geschossen wird, um den Zugang zum Zentralnervensystem zu ermöglichen, heißt Bioport. Das Aussehen der Geräte ist betont organisch. So erinnert die Konsole an eine Niere, beginnt bei Berührung konvulsivisch zu zucken und seltsam schmatzende Laute von sich zu geben; beim Bioport, der afterähnlichen Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine, sind sexuelle Konnotationen überdeutlich. Selbst der Game-Skeptiker Ted Pikul (Jude Law) findet so viel Gefallen an diesen neuen Körperöffnungen, dass er diejenigen seiner Partnerin Geller zunächst einmal ausgiebig mit der Zunge stimuliert, bevor er sie und sich an das Spiel ankoppelt. Die beiden Protagonisten lassen sich auf "eXistenZ" ein, weil Geller herausfinden muss, ob ihr Programm Schaden genommen hat, als sie zu Beginn des Films Opfer eines Anschlags fanatischer Spielehasser wurde. Als sich die Anschläge auch auf der Spielebene fortsetzen, wird es für die Spieler zunehmend schwierig, zwischen der realen und der imaginären Ebene ihrer Existenz zu unterscheiden. Und auch für den Zuschauer brechen Unterscheidungsmöglichkeiten weg, wenn sich herausstellt, dass bereits die Eingangssequenz Teil eines übergeordneten Spieleprogramms war.
In der Essenz fügt Cronenberg seinem Lieblingsthema nichts Neues hinzu. Dass Medien dazu beitragen, Realität und Fiktion verschwimmen zu lassen, hat den kanadischen Regisseur von Videodrome bis zu Naked Lunch immer wieder beschäftigt. Doch nicht diese tendenzielle Ununterscheidbarkeit, von enttäuschten Rezensenten als mittlerweile abgedroschene Erkenntnis beklagt, ist wesentlich bei eXistenZ, sondern die Extrapolation dieser These anhand der Video- und Computerspiele.
Denn wenn die Kids auf das Digitale, auf Computer und Internet abfahren, bewegt sich am besten auch das Kino in diese Richtung. In der Vergangenheit geschah das einerseits durch den gelegentlichen thematischen Bezug, etwa Irwin Winklers The Net; andererseits dienen digitale Techniken inzwischen regelmäßig der möglichst spektakulären Bebilderung konventioneller Dramaturgien. The Matrix aber war viel intelligenter und offensiver: Hier hat das Virtuelle eine narrative Funktion. Auf produktionstechnisch extrem hohen Niveau wird eine Ästhetik adaptiert, die man sonst nur von den Spielekonsolen kennt. Wie in den Games konnten die Protagonisten dort unmögliche Bewegungsabläufe vollziehen. Die aufreizende Langsamkeit der Dialoge vermittelte den Charme eines Sprachprogramms. Mit dieser Dramaturgie holte The Matrix die jungen Leute bei einem Medium ab, das sie bestens kennen und inzwischen vielleicht mehr schätzen als Kino. Die Verkaufszahlen der soeben lancierten Sega-Konsole DreamCast sprechen Bände.
Ganz ähnlich nutzt nun auch Cronenberg die dramaturgischen Elemente der Game-Kultur; wenngleich er dabei augenzwinkernd deren Unvollkommenheit betont. Als Geller bei ihrer Reise durch "eXistenZ" auf eine Figur stößt, die ein verqueres Kauderwelsch absondert, wird sie ganz melancholisch: Noch viel Programmierungsarbeit ist zu leisten, bis der Kerl einigermaßen echt wirken wird. Dem hohen Abstraktionsgrad vieler Spiele entspricht, dass es in "eXistenZ" von unförmigen, bunkerartigen Gebäuden wimmelt, deren Funktion jeweils ein riesiges, angehängtes Plakat verkündet: Motel, Tankstelle, China-Restaurant. Mit solchen metareferenziellen Elementen ist Cronenbergs Film vielleicht weniger berauschend als The Matrix, dafür aber genauer und kompetenter in der Analyse des Mediums - wie sich etwa am dramaturgischen Einsatz einer terroristisch operierenden Befreiungsarmee zeigt, die im Namen des Realismus gegen die Game-Industrie Sturm läuft. Was bei The Matrix ernstgemeinte Haltung war, die Revolution des Helden Neo (Keanu Reeves) gegen die Illusionskunst, ist bei eXistenZ nur eine Haltung, die notwendig zum Videospiel gehört. Denn jedes neue Medium hat bisher die Diskussion provoziert, ob es den Menschen nicht abhängig mache und ihn von der Realität entfremde. Dass diese Kritik nun auch die Spielkultur trifft, ist quasi systemimmanent.
Cronenberg hält diese Einschätzung für Fundamentalistengeschwätz. Kein Wunder bei einem Regisseur, der von Anbeginn seiner Karriere den möglichen Einfluss der Medien und Apparate auf den menschlichen Körper goutiert hat- zuletzt verfilmte er mit dem bestenfalls als bizarr eingeschätzten Crash den Stoßseufzer von Andy Warhol: "Jeder sollte eine Maschine sein. Jeder sollte jeden mögen." Die biotechnologischen Fantasien von eXistenZ jedoch sind an dem veränderten Körperkonzept, das Cronenberg umtreibt, näher dran als die unterhaltsamen, aber auch spekulativen Visionen seiner frühen Filme.
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