Netflix: »Die Ausgrabung«
Es war überraschend, wie viele Menschen »Die Ausgrabung« liebten, als der Film auf Netflix anlief. In den Ankündigungen klang er wie eine dieser geschmackvoll gemachten, bittersüßen britischen Vergangenheitsbetrachtungen, wie »Was vom Tage übrig blieb« (1993) oder »Atonement« (2007), diese Art von Film. Liebhaber des Genres konnten sich an der Ausstattung, den Kostümen und den schönen Menschen sattsehen und über die pointierten Dialoge freuen. Die historischen Bezüge solcher Filme hingegen, mit ihren Andeutungen von Krieg und sozialen Restriktionen, schienen wenig mit der Gegenwart zu tun zu haben, und man war froh darüber.
Tatsächlich ist auch »Die Ausgrabung« ein zutiefst britischer Film, der Klassenunterschieden in perfektem Set Design nachspürt. Er feiert die eigensinnige Einzelgängerschaft und die Vergangenheitsliebe des eigenen Landes, als wollte er Großbritannien noch einmal zum Brexit gratulieren. Aber nicht nur in England liebten die Zuschauer dieses Drama um einen Hobby-Archäologen, der eine der aufregendsten archäolgoischen Entdeckungen des Landes macht, um dann von den Kollegen vom British Musem ins Abseits und die Vergessenheit gedrängt zu werden.
Erzählt wird eine Geschichte, die sich 1939 so oder so ähnlich ereignet hat: Auf einem Feld in der Grafschaft Suffolk wurde das Grab eines mutmaßlich angelsächsischen Königs entdeckt, der dort im 7. Jahrhundert mitsamt seinem Schiff bestattet wurde. Kostbare Grabbeigaben wurden gefunden. Der Ort der Ausgrabung, Sutton Hoo, ist bis heute zu besichtigen; die Reichtümer ruhen unterdessen im British Museum.
Außergewöhnlich waren die Umstände der Hebung des Schatzes, ebenso wie die daran beteiligten Menschen: Die Grundbesitzerin Edith Pretty (Carey Mulligan), die von nichts weiter als einer Ahnung getrieben wurde, dass unter den seltsamen Erderhebungen auf ihrem Land »etwas sein könne«. Und der bäuerliche, autodidaktisch gebildete Archäologe Basil Brown (Ralph Fiennes), den sie einstellt, um zu sehen, was sich unter den Grashügeln verberge.
Für Edith Pretty ist der Fund unter der Erde »jemandes Grab«, für Basil Brown zeigt sich in ihm »das Leben«. Mrs. Prettys kleiner Sohn blickt durch sein Fernrohr in eine ganz andere Richtung und träumt von der Raumfahrt, die es 1939 noch gar nicht gibt. Unterdessen bereitet sich das Land auf den Krieg vor, Angst und Ungewissheit breiten sich aus. Es herrscht eine Atmosphäre tiefer Verunsicherung, die ja auch unsere Gegenwart bestimmt. Vielleicht sind es, unter anderem, diese inneren Anknüpfungspunkte, die so viele Zuschauer berührten.
Carey Mulligan und Ralph Fiennes deuten eine komplizierte, von Respekt und sozialen Klassenschranken bestimmte Neigung zueinander an. Es ist ein Melodram von nobler Disziplin und in Schach gehaltenen Gefühlen, aber man spürt auch den Ernst, der es transzendiert. Die großen Schauspieler geben den Rollen Tiefe, mit ihrer verhaltenen Melancholie, mit ihrem Charme und ihrer Toughness und deshalb verzeiht man dem Film alles, jede Schwäche und die kleinen sentimentalen Klischees, die ihn am Ende einholen.
Die Entdeckung des Königsgrabs wird fast zu einer Privatsache zwischen den beiden Enthusiasten. Ihr Arbeitsidyll wird gestört, als zuerst ein lokales Museum und dann das mächtige British Museum Ansprüche auf den Fund erheben. Die Londoner Institution gewinnt, natürlich, und reißt die weitere Ausgrabung an sich. Den moralischen Sieg aber tragen die beiden fragilen Exzentriker davon. Auch wenn der Film irgendwann in Nebenhandlungen zerfasert, die neuen Figuren gewidmet sind.
Diese Geschichte wird in knappen Dialogen erzählt, vor einer Landschaftskulisse, die in majestätischen Totalen eingeführt wird. Doch wichtiger als die Story sind die Stimmung, die Dialoge und das Spiel. »Die Ausgrabung« ist ein melancholischer Film, in dem es um Tod und Leben und vor allem um dessen Zerbrechlichkeit geht. Er positioniert sich genau auf der Trennlinie zwischen Eskapismus und seinem Gegenteil, dem Wunsch, die Dinge zu sehen, wie sie sind. Das ist ein Balanceakt, den viele von uns täglich versuchen, oft vergeblich. Als Mrs. Prettys kleiner Sohn Basil Brown anvertraut, in der Sorge um die kranke Mutter versagt zu haben, sagt Brown: »We all fail. Every day.« Auch das im Sinne einer nüchternen Feststellung.
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