Tristes Leben, starkes Kino
»Ray & Liz« (2018). © Rapid Eye Movies
Die Briten haben Probleme. Aber ihre Filmszene blüht: Sie setzt die große Tradition des sozialen Realismus mit neuen Mitteln fort. Über die kreativen Erben von Ken Loach und Mike Leigh
Der englische Regisseur Mark Jenkin war verwirrt. Nach der Weltpremiere seines Films »Bait« auf der diesjährigen Berlinale fragte ihn jemand aus dem Publikum, ob er sich in der Tradition des britischen sozialen Realismus und von Filmemachern wie Mike Leigh und Ken Loach sehe. Jenkin verneinte entschieden. Auf den ersten Blick hat sein Film tatsächlich nichts mit dem lebensnahen Stil gemein, für den das britische Kino seit den späten 80er Jahren berühmt ist: »Bait« ist in kontrastreichen Schwarz-Weiß-Bildern auf 16-Millimeter-Film gedreht und bedient sich eher bei Stummfilmgrößen wie Eisenstein und Murnau. Realistisch ist hier nichts: Die Dialoge sind nachsynchronisiert, die Montage ist expressionistisch.
Dennoch kann man die Frage an Jenkin nachvollziehen, denn trotz des formalistischen Stils steckt ein wenig von dem Geist des sozialen Realismus in »Bait«. Der empathische Blick, den der Film auf die seefahrende Arbeiterklasse Cornwalls und ihre Verdrängung durch neureiche Londoner wirft, entspricht durchaus der rohen Verbildlichung gesellschaftlicher Ungerechtigkeit, mit der man britisches Independent-Kino lange Zeit zu Recht assoziierte – bis in den späten 90ern die zynischen Gangsterfilme der Marke Guy Ritchie überhandnahmen. Mit seinem trockenen Humor und seiner überzeugenden Inszenierung alltäglicher Klassenkonflikte fungiert »Bait« so als neuestes Beispiel einer allgemeinen Tendenz im britischen Indie-Film: Das Klassenbewusstsein des sozial-realistischen »Kitchen Sink«-Dramas bleibt erhalten, visuell und erzähltechnisch aber öffnet man sich neuen Experimenten oder wendet den bekannten Stil auf neue Zusammenhänge an.
Tradition und Klassenbewusstsein
Im Kontext ungekannter sozialer Ungleichheiten, einer verheerenden Austeritätspolitik und nicht zuletzt des desaströsen Brexit-Prozesses wundert es nicht, dass sich das aktuelle englische Mainstream-Kino zu großen Teilen in Eskapismus übt: Man erinnert sich kollektiv an ruhmreiche Kriegsepisoden (»Die dunkelste Stunde«), widmet sich Nationalhelden wie Shakespeare (»All Is True«) oder den Intrigen der oberen Zehntausend (die Filmversion von »Downton Abbey«). Die Working Class taucht im Multiplex aktuell so gut wie gar nicht auf (wenn man von dem charmanten Wrestling-Film »Fighting with My Family« absieht).
Im Arthouse-Kino steht noch immer vor allem ein Name für die authentische Repräsentation prekärer Lebensumstände: Ken Loach. Seit gut 50 Jahren erzählt Loach, wie zuletzt im Drama »Ich, Daniel Blake«, brillant von der Härte des Lebens am unteren Ende des sozialen Spektrums; sein Weggefährte Mike Leigh sorgte mit seinem ungelenken Historiendrama »Peterloo« im letzten Jahr eher für ratlose Gesichter. Loach und Leigh brachten zum Ende der 80er Jahre den realistischen Stil der britischen New Wave zurück in die Kinos.
Mochten die beiden auch mit unterschiedlichen Methoden arbeiten – Loach folgte grob gesagt einem am Dokumentarfilm, Leigh einem am Theater geschulten Prozess –, so einte die Filmemacher, dass sie »Realismus nutzten, um reduktive Definitionen von Realität infrage zu stellen«, wie der Filmwissenschaftler Jim Leach schreibt. Harte sozialkritische Filme wie »Nil by Mouth« (Gary Oldman, 1997) und »The War Zone« (Tim Roth, 2000) folgten in ihrem Fahrwasser.
Aktuell tritt eine neue Generation von Filmemachern in Loachs und Leighs Fußstapfen, richtet einen ähnlich schonungslosen Blick auf Armut und Marginalisierung. Die Regisseurin Clio Barnard etwa hat mit »The Selfish Giant« (2013) einen solchen Film inszeniert – einen, der dort hinschaut, wo es wehtut. Barnard erzählt die Geschichte des 13-jährigen Arbor, der im postindustriellen Niemandsland von Bradford aufwächst. Um über die Runden zu kommen, lässt er sich mit einem dubiosen Schrottsammler ein, für den er Altmetall aufspürt. »The Selfish Giant«, in Deutschland leider gar nicht erschienen, folgt treu der visuellen Unmittelbarkeit des sozialen Realismus und porträtiert in düsteren Farben die Hoffnungslosigkeit eines vergessenen Englands. Einer der Hauptdarsteller, Sean Gilder, beschrieb den Film in einem Interview gar als »Kes fürs 21. Jahrhundert«, knüpft also ganz explizit an den berühmten Ken-Loach-Film von 1969 an.
Der derzeit vielleicht beliebteste Vertreter eines Kinos am Puls der britischen Gesellschaft ist der Regisseur Shane Meadows – sein Film »This is England« (2007) gehört mit zum Besten, was das britische Independent-Kino im 21. Jahrhundert hervorgebracht hat. Meadows inszeniert hier mit viel Liebe zum Detail einen subkulturellen Mikrokosmos – die Ska- und Skinhead-Szene der 80er Jahre – und kommentiert damit präzise und humorvoll das bittere Vermächtnis der Thatcher-Jahre. Seit einigen Jahren hat sich Meadows ins TV-Fach verabschiedet und ausgehend von den Figuren aus »This is England« eine mehrere Generationen umspannende Fernsehserie produziert, die dem Original an Qualität in nichts nachsteht.
Meadows beweist mit seinen Kino- und TV-Projekten, dass Working-Class-Identität nicht als endlose Krise und erschütterndes Elend inszeniert werden muss, sondern einfach ein Teil komplexer Figurenzeichnung sein kann. Im Gegensatz zu vielen anderen Filmemachern liegt diese Authentizität auch in seiner Biografie begründet: Aufgewachsen in der kulturell unterrepräsentierten Region der East Midlands als Sohn eines Fish-and-Chips-Ladenbesitzers, kennt er sein Milieu genau.
Ähnliches lässt sich über Richard Billingham sagen, ebenfalls ein Kind der Midlands, dessen Debütfilm »Ray & Liz« es jetzt auch ins deutsche Kino geschafft hat. Bekannt geworden ist Billingham als Fotograf: In seiner populärsten Fotoreihe dokumentierte er den Alltag seiner alkoholabhängigen Eltern in Birmingham – auf diesen Bildern beruht nun auch sein Spielfilm, der einen teils schwarzhumorigen, manchmal fast zu drastischen Blick auf Verwahrlosung und Alkoholismus wirft. Zweifellos aber ist der aufklärerische Gestus des sozialen Realismus in diesen und anderen Beispielen weiterhin lebendig.
Queere Sachlichkeit
Eine Renaissance erlebt der sachliche Stil des sozialen Realismus zudem speziell im britischen Queer Cinema. Lange assoziierte man Filme mit LGBT-Themen auf den britischen Inseln mit bunten Farben, schrulligen Charakteren und deftigem Humor – wie etwa in Stephen Frears' Klassiker »Mein wunderbarer Waschsalon« oder aktueller in Matthew Warchus' »Pride« (2014). Für eine neue, nüchterne Herangehensweise steht neben Andrew Haighs Erstling »Weekend« (2011) etwa auch Francis Lees Spielfilmdebüt »God's Own Country«, das im letzten Jahr bei uns lief. Der Film erzählt auf unaufdringliche, aber bewegende Weise von einer homosexuellen Beziehung im ländlichen Yorkshire: Der junge Johnny (Josh O'Connor) lebt ein frustriertes Leben auf der abgelegenen Farm seiner Eltern, das er mit schnellem Sex und reichlich Alkohol zu vergessen sucht. Doch dann taucht der rumänische Saisonarbeiter Gheorghe (Alec Secareanu) auf, und nach anfänglichem Misstrauen entwickelt sich eine zärtliche Beziehung zwischen den beiden unterschiedlichen Männern.
Lee fängt die Kargheit Nordenglands in kühl-minimalistischen, aber beeindruckenden Bildern ein und lässt sie unaufdringlich zur Metapher für die Gefühlswelt seines Protagonisten Johnny werden. Sein Gespür für den tastenden, dann wieder rabiaten Umgang der beiden Hauptfiguren miteinander macht »God's Own Country« zu einem kleinen Meisterwerk. Hier steht nicht der Kampf für Rechte im Vordergrund, sondern der ganz alltägliche Umgang mit der eigenen Sexualität und dem nicht immer wohlgesonnenen Umfeld.
Auf ähnliche Weise nähert sich auch der chilenische Oscarpreisträger Sebastián Lelio (»Eine fantastische Frau«) dem Thema. In »Disobedience« (Ungehorsam, 2017), seinem ersten komplett in England produzierten und gedrehten Film , erzählt er die Story einer verbotenen lesbischen Liebe in einer ultraorthodoxen jüdischen Community: Als die säkular lebende Ronit (Rachel Weisz) nach dem Tod ihres Vaters, eines Rabbis, zurück in ihre Nord-Londoner Heimat kehrt, flammen Gefühle für ihre Jugendliebe Esti (Rachel McAdams) wieder auf. Esti aber ist streng religiös und zudem mit dem Nachfolger von Ronits Vater verheiratet. Auch Lelio verzichtet bewusst auf überbordende Farben und inszenatorische Spielereien. Er konzentriert sich auf die Interaktion seiner Hauptfiguren, die nicht bloß als Chiffren für ihre sexuelle Identität stehen, sondern als glaubwürdige Charaktere hervortreten. So sorgt die neue Sachlichkeit des britischen LGBT-Kinos für eine empathische Normalisierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen, die sich zeitgemäß von schrillen, wenn auch wohlgemeinten Protestfilmen verabschiedet.
Vom sozialen zum magischen Realismus
Ein weiterer Aspekt des Wandels im britischen Film ist eine Gruppe von Filmemachern, die sozusagen aus der Keimzelle des sozialen Realismus heraus neue, gewagtere Ideen und Stilvariationen entwickeln – was allerdings oftmals mit dem Sprung ins Filmland Amerika verbunden ist. Zwei prominente Beispiele hierfür sind die Regisseurinnen Lynne Ramsay und Andrea Arnold, die sich mit ihren jeweiligen Frühwerken nah an der lokalen, sozialkritischen Tradition des britischen Autorenfilms orientierten, diese dann aber mit großem Erfolg modifizierten.
Ramsays gelungenes Erstlingswerk »Ratcatcher« von 1999 steht noch deutlich unter dem Einfluss von Ken Loach: Die schottische Regisseurin folgt hier dem Geschick eines Jungen, der dem von Armut und Gewalt geprägten Glasgow des Jahres 1973 zu entkommen sucht. Zu großen Teilen in gedämpften Grautönen gehalten, konstruiert Ramsay einen filmischen Raum des Mangels und der Entbehrung. Daran scheint sie im Nachfolger »Morvern Callar« (2002) zunächst anzuschließen: Die Titelheldin (Samantha Morton) wird mit dem Selbstmord ihres Freundes konfrontiert, treibt ziellos durch ein tristes Glasgow.
Dann aber wandelt sich der Film: Morvern begibt sich gemeinsam mit ihrer besten Freundin auf einen spontanen Trip ins sonnendurchflutete Spanien, das Ramsay wie eine zum Leben erwachte magische Postkarte inszeniert. »Morvern Callar« ist eine Ode an die Freundschaft zwischen Frauen und ein erzählerisch wie visuell vielschichtiges Werk, das den Boden für Ramsays Karriere in Amerika ebnete: Mit verschachtelten Thrillern wie »We Need to Talk About Kevin« (2011) positionierte sie sich als eine der innovativsten Autorenfilmerinnen weltweit.
Andrea Arnold wurde ebenfalls mit einem heftigen Jugenddrama bekannt: »Fish Tank« (2009) erzählt die bittere Coming-of-Age-Story der 15-jährigen Mia (Katie Jarvis), die in einem »Council Estate«, einem brutalistischen sozialen Plattenbau in Essex aufwächst. Ihrem deprimierenden Alltag mit der desinteressierten Mutter kann sie nur in den kurzen Momenten entfliehen, in denen sie an ihrer Tanzchoreographie arbeitet. Als der neue Freund der Mutter, Conor (Michael Fassbender), in die Wohnung einzieht, stürzt Mia in einen Wirbel unbekannter Gefühle.
»Fish Tank« folgt seiner taffen Protagonistin mit intensiver Direktheit durch die Betonwüste und zieht das Publikum vom ersten Moment an auf ihre Seite. Der Look verblichener Polaroid-Aufnahmen, den der Film perfektioniert, weist bereits darauf hin, dass Arnold sich mit der begrenzten visuellen Palette des sozialen Realismus nicht lange zufriedengeben würde. Schon im Nachfolger, der Brontë-Verfilmung »Wuthering Heights« (2012), zog sie inszenatorisch ganz andere Register und orientierte sich an amerikanischen Regisseuren wie Terrence Malick.
Der Quantensprung aber gelang ihr mit »American Honey« (2016), auf gewisse Weise eine Fortführung der Themen aus »Fish Tank«, allerdings in einem durch und durch amerikanischen Kontext. Nicht unähnlich zu Ramsays »Morvern Callar« behält Arnold hier zwar den Fokus auf der realen sozialen Desorientierung marginalisierter Jugendlicher, reichert ihr Filmuniversum aber mit expressionistischen Elementen an. Dass diese beiden hoch talentierten Regisseurinnen dem britischen Film zumindest vorerst abhandengekommen zu sein scheinen – man könnte auch Steve McQueen (»Hunger«, »Widows«) als »verlorenen Sohn« nennen – ist vielleicht auch ein Hinweis darauf, dass gewisse formelle Experimente in ihrem Heimatland doch noch skeptisch gesehen werden.
Roadtrip ins Grauen
Lange Zeit stand vor allem ein Wort für den Einfluss britischer Genrefilme: Hammer. Die Hammer Studios produzierten von den 1930ern bis in die 70er zahlreiche Gothic-Horror- und andere Genrefilme, die mit ihrer Schaueratmosphäre etwas Urbritisches ausstrahlten. Danach war vom britischen Horror lange nichts zu hören. Eine neue Fusion des prestigeträchtigen sozialrealistischen Stils mit dem noch immer im Ruf des Spekulativen stehenden Genrefilm ist aber nun zu einer ernstzunehmenden Größe im britischen Kino geworden.
Filme wie »Eden Lake«, »Mum & Dad« (beide 2008) oder zuletzt der von der Kritik gelobte »Possum« (2018) kombinieren profane englische Settings und den Geist des alltäglichen »Kitchen Sink«-Dramas mit deftigem Splatter amerikanischer Spielart oder düsterer psychologischer Doppelbödigkeit. Zum Helden dieser neuen Horrorwelle mit sozialrealistischem Hintergrund wurde der aus Essex stammende Regisseur Ben Wheatley. Nachdem er sich zunächst mit »Kill List« (2011) überzeugend im Okkulten versucht hatte, gelang ihm mit der tiefschwarzen Killerkomödie »Sightseers« (2013) sein Meisterstück: Darin schickte er ein nicht allzu helles Spießerpärchen aus der Provinz auf einen blutigen Wohnmobil-Roadtrip quer durchs ländliche England; wer den beiden Anorakträgern dumm kommt, wird kurzerhand brutal aus dem Weg geräumt.
Am optisch beeindruckendsten gelang der Spagat zwischen Profanität und überirdischem Grauen aber dem Londoner Jonathan Glazer mit »Under the Skin« (2013). Teils mit versteckter Kamera auf den Straßen Schottlands gedreht, lässt der Film seine mysteriöse, betörende Protagonistin (Scarlett Johansson) nach männlichen Opfern suchen, die in starkem Kontrast zum Hollywoodstar Johansson größtenteils von Laien verkörpert werden. Dann verschleppt sie die unbedarften Männer in ihr futuristisches Labyrinth, aus dem sie niemals zurückkehren.
Vielleicht sind es vor allem diese in keine Schublade passenden Genreexperimente, die Großbritanniens aktuelle filmische Vielfalt am besten verkörpern. Denn hier verschwimmt die zweifellos noch immer streng gehütete Grenze zwischen Hoch- und Popkultur am stärksten und bringt ganz wunderbare Mutationen hervor. Insgesamt aber erlebt das Kino des Vereinigten Königreichs derzeit eine beeindruckende Blüte – umso tragischer, dass die Zukunft dieser lebendigen Filmindustrie durch die Ungewissheit kommender Zusammenarbeit mit europäischen Förderungs- und Produktionsinstanzen nach dem Brexit höchst ungewiss ist.
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