Kritik zu We Need to Talk About Kevin
Auf schmalem Grat zwischen Drama und Horrorfilm erzählt Lynne Ramsay in ihrem bereits vielfach preisgekrönten Film von einer Mutter-Sohn-Beziehung, die in eine Katastrophe mündet
Wenn der Film beginnt, ist das Unfassbare längst geschehen. Mit irritierenden Bildern, suggestiv montiert, fragmentarisch, tauchen wir in die Psyche einer Frau ein, für die der Ausnahmezustand zur Normalität geworden ist. Eva ist eine gebeugte Gestalt, geht wie ein Gespenst durch die Welt, unter der Last einer Schuld, die gewaltig sein muss. Auf offener Straße wird sie angefeindet, geohrfeigt. Die Bruchbude, in der sie haust, und ihr Wagen werden mit Farbe verschandelt. Und als giere sie geradezu nach Bestrafung, kratzt sie in stoischer Handarbeit das Rot von den Hauswänden. Es ist ein Rot des Blutes und der Schuld, das in unzähligen Varianten den gesamten Film kontaminiert.
Bereits in der Eröffnungsszene: In Vogelperspektive schwebt da die Kamera über einer Menschenmenge, die eine blutgetränkte Orgie zu feiern scheint, ein gigantisches, bizarres Geschlidder und Getaumel in Rot, und mittendrin Eva, die sich von der Masse emporheben und selig lächelnd über ihre Köpfe hinwegtragen lässt, wie ein Rockstar – oder eine Märtyrerin. Wahrscheinlich sind diese Bilder nur die Erinnerung an ein spanisches Tomatenfestival, denn Eva war vor ihrer Ehe und Elternschaft eine erfolgreiche Reiseschriftstellerin. Kaum zu unterscheiden sind Traum- und Wachbilder, das Davor und das Danach jenes zunächst unklaren, katastrophischen Fixpunkts der Handlung. Langsam aber kristallisiert sich aus den Szenen eine Chronologie heraus, und der Stil wird nüchterner.
Irgendwann in der Vergangenheit verliebt Eva sich in Franklin (John C. Reilly), wird schwanger, gibt ihr Reisen zugunsten der Familie auf. Doch was das Glück sein soll, entwickelt sich immer mehr zum Alptraum. Eva ist überfordert von dem ständig schreienden Sohn, und dieser entwickelt sich zum Tyrannen. Je älter er wird, desto perfider werden seine Provokationen, als sei sein einziges Ziel, seine Mutter in den Wahnsinn zu treiben. Und später werden seine Aktionen bedrohlich, zum Beispiel für seine kleine Schwester. Ja, Eva und Franklin müssten dringend über Kevin reden – doch das Gespräch findet nie statt.
In ihrem dritten Film nach Ratcatcher und Morvern Callar balanciert Lynne Ramsay mutig zwischen psychologischem Drama und Horrorfilm. Wie die kontroverse Romanvorlage von Lionel Shriver bleibt der Film ganz in der Perspektive Evas und ihrer Rückschau. So könnte es auch dieser unzuverlässigen Erzählerin geschuldet sein, dass Kevin dämonische Züge annimmt. Immer wieder suggeriert dieses hübsche Jungengesicht mit dem verschlagenen Grinsen etwas Böses, das keine Motive, keine Psychologie besitzt außer der Lust an der Destruktion.
Die Regisseurin legt aber zugleich Indizien aus, warum Kevin zum Soziopathen heranwächst: fehlende Liebe und die beständig aufrechterhaltene Lüge von der heilen Familie. Während der Vater stets beschwichtigt, kämpft Eva vergeblich darum, den Sohn zu lieben, den sie in ihrem tiefsten Inneren vielleicht von Anfang an ablehnt, weil er für den Verlust ihrer Freiheit steht. Und deshalb ist Kevins Hass vielleicht nur die Spiegelung und Nemesis ihres eigenen, unterdrückten Hasses.
Der mit knappen finanziellen Mitteln und in sehr kurzer Drehzeit entstandene Film entwickelt eine enorme Spannung und hält sie bis zum Ende. Von Anfang an zieht er durch seinen assoziativen, hypnotischen Stil, dann immer mehr durch die – auf den Punkt getimten – Konfrontationen zwischen Eva und Kevin in den Bann und mündet in eine Klimax, die zwar absehbar ist, doch deshalb nicht weniger erschütternd. Die emotionale Wucht des Ganzen erwächst dabei aus dem Antagonismus von Ezra Miller, der den Teenager Kevin mit furchterregender Kälte spielt, und Tilda Swinton, deren Eva sicher zu den ergreifendsten Rollen ihrer langen Karriere zählt.
We Need to Talk About Kevin ist ein verstörender Film, und er wirkt lange nach. Was man von ihm nicht erwarten darf, ist eine konzise Analyse, wie und weshalb Jugendliche zu Mördern werden. Doch wie Roman Polanski mit Rosemary’s Baby einst die Ängste von Schwangeren in Horrormetaphern übersetzte, so findet Lynne Ramsay vielschichtige Bilder für den schrecklichsten Alptraum von Eltern: dass ihr Versagen ihr Kind zum Monster machen könnte.
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