So geht Kino! – Dokus zur Filmgeschichte
John Wayne in »The Searchers«
Alles, was Sie schon immer über Film wissen wollten, aber nie zu fragen wagten: Dokus zur Filmgeschichte boomen
Früher betrat man den der Filmproduktion gewidmeten zweiten Teil der Dauerausstellung des Deutschen Filmmuseums in Frankfurt über eine schmale Treppe, die wie frei schwebend zwischen den Stockwerken hing. Eine Himmelsleiter, die den Besucher in ein Kinofoyer entließ, dessen Wände mit rotem Stoff bezogen waren. Ein kleines Foyer nur, doch heimeliger als die meisten Kinofoyers in dieser Zeit, in den frühen neunziger Jahren, als die aufkommenden Multiplexe ihre Empfangsräume wie Schalterhallen ausstatteten. Die Magie des Kinos sollte da ein bisschen rüberkommen, mit ausgehängten Programmheften und Kinofotos, und wenn man weiterging, gelangte man in ein kleines Kino, mit einem gläsernen Projektionsraum davor, in dem Dokumentationen zur Filmgeschichte liefen. Zum Beispiel die sechs Folgen von Filmstil und Filmtechnik von Michael Strauven und Ulrich Gregor. Die stammten zwar aus dem Jahr 1968 – waren aber ein gelungener und geordneter Blick hinter die Kulissen.
Zudem konnte man zu dieser Zeit noch lange nicht so aus dem Vollen schöpfen wie heutzutage. Es ist auffällig, wie verstärkt gerade in den letzten Monaten Dokus zur Kinematographie oder zu Personen der Filmgeschichte in die deutschen Kinos kamen. An biografischen Werken starteten etwa »Fassbinder« von Annekatrin Hendel, »Altman« von Ron Mann mit wenig bekanntem privatem Material oder »Woody Allen – a Documentary«, schon 2012 gestartet, aber vor kurzem auf DVD erschienen. Ende Mai kam auch »Von Caligari zu Hitler« ins Kino, ein Filmessay des Kritikers Rüdiger Suchsland. Die großen Festivals von Venedig und Cannes haben mittlerweile eine Sektion »Classics« eingerichtet. Dort laufen filmgeschichtliche Ausgrabungen oder restaurierte Kopien, aber auch Dokumentationen übers Kino – wie »Altman« in der Sektion Venice Classics im letzten Jahr. Cannes Classics punktete in diesem Jahr mit »Hitchcock/Truffaut« von Kent Jones, der auf den Audiotapes beruht, die François Truffaut mit Alfred Hitchcock für sein berühmtes Interviewbuch »Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?« aufgenommen hat.
Es ist, als ob das Kino, längst nicht mehr allein, sondern nur noch ein Format im Konzert der bewegten Bilder, Rückschau hält auf »sein« Jahrhundert, als es noch die Nummer eins in Sachen Geschichtenerzählen und, zumindest sechs Jahrzehnte lang, in Sachen audiovisuelle Informationsübermittlung war. Und dennoch: wahrscheinlich gingen die entscheidenden Impulse für filmgeschichtliche Dokumentationen, für »filmvermittelnde« Filme, wie die heutige Sprachregelung lautet, vom Fernsehen aus. Und hier vor allem von den Dritten Programmen, die in den sechziger und frühen siebziger Jahren begannen, Filmgeschichte auszugraben, oft über die Firmen des Rechtehändlers Leo Kirch, und sie durch filmkundliche Sendungen, wie man das damals wohl nannte, zu orchestrieren. Das war auch die Zeit, als die Sender ihre Filmmagazine einrichteten – die es längst nicht mehr gibt und deren Inhalte mittlerweile auf die Kulturkanäle arte und 3sat abgewandert sind.
Scannt man die Titel der seit Ende der sechziger Jahre entstandenen Filme, merkt man zum einen die Lust auf filmgeschichtliche Entdeckungen, gerade bei vergessenen Regisseuren, aber auch den kultur- und ideologiekritischen Impetus. Reinold E. Thiel etwa, der verantwortliche Redakteur des WDR, Deutschlands größter Sendeanstalt, drehte die legendären Untersuchungen »Was wurde aus Goebbels' Ufa?« und »Filmförderung oder Schnulzenkartell. Die Fehlschläge des Bonner Filmdirigismus« (beide 1970). Den Versuch einer Demystifikation der Traumfabrik merkt man auch den sechs 30-Minütern von Filmstil und Filmtechnik an, die etwa in ihrer ersten Folge Die Erfindung der Apparate die Frühgeschichte des Films entwerfen und in weiteren Folgen die Möglichkeiten der Kamera und des Schnitts analysieren. Wer weiß, wie es funktioniert, der ist auch ein bisschen gefeit gegen die Überwältigungsstrategien des kommerziellen Films. Konsequent steht am Ende der vom WDR produzierten Sendereihe auch eine Folge über das Cinema Verité, von der sich die beiden Autoren Ulrich Gregor und Michael Strauven nicht nur die »Realität des gelebten Augenblicks«, sondern auch die Anwendung von dessen Prinzipien auf den Spielfilm versprachen.
In diesen Pioniertagen filmkundlicher Sendungen drehte Hans-Christoph Blumenberg, der damalige Filmkritiker der »Zeit« und spätere Spiel-und Fernsehfilmregisseur, seine Sendungen über das vergangene und das gegenwärtige Hollywoodkino, eine Arbeit, die später etwa von Norbert Grob fortgeführt wurde. Für den WDR entstand auch 1976 »Der Schauplatz des Krieges«. »Das Kino von John Ford« von Hartmut Bitomsky, damals ein regelmäßiger Autor filmkundlicher Sendungen. Wahrscheinlich ist der 1973 gestorbene John Ford die am häufigsten porträtierte Figur der gesamten Filmgeschichte. 1971 drehte Denis Sanders den Einstünder »The American West of John Ford« und setzte Fords Stars John Wayne, Henry Fonda und James Stewart mit »Pappy«, wie sie ihn nannten, zu allerdings wenig ergiebigen Interviews zusammen. Überhaupt hat der grantelige Ford, der offenbar Interpretationen seiner Werke hasste, in seinen späten Jahre viel dafür getan, dass sein Mythos nicht übergroß wird. In »Directed by John Ford« von Peter Bogdanovich (1971) gibt es ein Interview mit ihm vor dem Hintergrund des Monument Valley, in dem er nur »Nein« und am Schluss sogar »Cut!« sagt. Obwohl Bogdanovichs Fragen durchaus substanziell sind. In John Ford von Lindsay Anderson, den der britische Regisseur und Autor zusammen mit dem Regisseur und Produzenten Andrew Eaton 1993 realisierte, sagt Ford auf die Frage, wieso John Wayne Maureen O'Hara in »Der Sieger« tatsächlich in den Hintern treten muss, dass die Leute doch immer an dieser Stelle gelacht haben.
Aber es sind wahrscheinlich auch die abgründigen, abweisenden Seiten, die einen Regisseur interessant machen. In »Passion & Poetry: The Ballad of Sam Peckinpah« (2005) durchstreift Mike Siegel das Werk des Regisseurs von »The Wild Bunch« und »Wer Gewalt sät« und lässt Schauspielerinnen und Schauspieler, die mit ihm gearbeitet haben, wie Senta Berger, James Coburn, Ernest Borgnine zu Wort kommen. Es setzt sich das Bild eines Regisseurs zusammen, der nicht nur unter den Eingriffen der Studiogewaltigen zu leiden, sondern auch mit seinen eigenen Dämonen, etwa dem Alkoholismus, zu kämpfen hatte. Auch der erst kürzlich auf DVD erschienene »Electric Boogaloo« von Mike Hartley über die Produzenten Menahem Golan und Yoran Globus, die mit ihrer Firma Cannon das Exploitation-Genre der achtziger Jahre dominierten, lässt die Persönlichkeiten der beiden Israelis zwischen Filmenthusiasmus und Größenwahn changieren. Und lässt im Zuschauer einen Gedanken aufkeimen: dass Cannon so etwas wie die Mutter des Independentkinos war.
Im deutschen Film haben dokumentarische Porträts durchaus eine Tradition, wenn man an »Nick's Film – Lightning Over Water« von Wim Wenders oder Werner Herzogs »Mein liebster Feind – Klaus Kinski« denkt. Vor zwei Jahren lief auf der Berlinale »Roland Klick – The Heart Is A Hungry Hunter« von Sandra Prechtel, in dem Weggefährten wie der Regisseur Hark Bohm, der Kameramann Jost Vacano, die Schauspieler Otto Sander und Eva Mattes zu Wort kommen. Klick war mit Werken wie »Deadlock« oder »Supermarkt« immer aufseiten seines Publikums, und so wirkt sein Werk in diesem Film wie eine Prophezeiung, dass es auch ganz anders hätte laufen können mit dem deutschen Film der Siebziger. Die vielleicht schönste Doku zur deutschen Filmgeschichte haben Hans Helmut Prinzler und Michael Althen gedreht: »Auge in Auge«. Zehn Filmemacher – neun Regisseure und ein Kameramann – haben sie gebeten, deutsche Filme vorzustellen, die sie besonders beeindruckt haben; Andreas Dresen spricht über »Solo Sunny«, Wim Wenders über »M« von Fritz Lang, Hanns Zischler über Kluges »Abschied von Gestern«.
DVD und Blu-ray haben noch einmal die Sehgewohnheiten des filminteressierten Publikums verändert: Interviews der Beteiligten werden PR-mäßig mitgeliefert, Produktionsgeschichte wird im Making-of konserviert. Dagegen kämpfen jene Werke an, die nur mit Filmausschnitten arbeiten, sie kommentieren oder den persönlichen Ansatz betonen. Oder die durch ihre Länge schon eine ungeteilte Aufmerksamkeit erfordern, wie der 15-stündige »The Story of Film: An Odyssey« (2011) des nordirischen Dokumentaristen und Kritikers Mark Cousins. Zwei der schönsten Kompilationsfilme hat Martin Scorsese gedreht: »Il mio viaggio in Italia« (»Meine italienische Reise«, 2001) über das italienische Kino der Nachkriegszeit und »A Personal Journey With Martin Scorsese Through American Movies« (1995). Scorsese strukturiert die Ausschnitte thematisch, verweist immer wieder auf gesellschaftliche Entwicklungen, nimmt das populärste amerikanische Genre, den Western (Der schwarze Falke darf nicht fehlen) unter die Lupe – und beschreibt auch, wie die Filme ihn selbst als Filmemacher beeinflusst haben. »A Personal Journey« entstand für das Britische Filminstitut (BFI), das auch andere Filmemacher zum 100. Geburtstag des Films um Dokus bat. Sie sind in einer DVD-Box »Filmgeschichte weltweit« zusammengefasst, in der etwa auch George Millers Geschichte des australischen Films sehenswert ist.
Eine ganz eigenwillige Sicht, besonders auf das Werk von Alfred Hitchcock, liefert auch »The Pervert's Guide to Cinema« von Sophie Fiennes, in dem der slowenische Philosoph Slavoj Žižek Hardcore-Psychoanalyse auf den Film anwendet – indem er etwa im Psycho-Haus im Keller sitzt und über die drei Stockwerke des Gebäudes als Repräsentationen des Es, des Ich und des Über-Ich räsoniert oder über die Bucht von Bodega Bay (aus »Die Vögel«) gleitet und dem geneigten Publikum erklärt: »The violent attacks of the birds are obviously explosive outbursts of maternal superego.« Über das Kino generell sagt er: »Cinema ist the ultimate pervert art: It doesn't give you what you desire, it tells you how to desire.«
Ebenso vergnüglich und geeky ist »Forgotten Silver« von Peter Jackson und Costa Botes, auch zum 100. Jubiläum des Films 1995 gedreht. Die Biografie des neuseeländischen Filmpioniers Colin McKenzie ist einer der brillantesten falschen Dokumentarfilme, die je gedreht wurden. Zuerst einmal führen die Regisseure den Zuschauer ganz sachte auf den Leim, mit Fakten und Fachleuten. McKenzie habe schon lange vor Murnau & Co die entfesselte Kamera erfunden, die er auf sein Fahrrad montiert habe, und auf die Nahaufnahme sei er gekommen, weil er sich in die Hauptdarstellerin verliebt habe. Er hat auch den ersten Motorflug der Geschichte gedreht, lange vor den Brüdern Wright. Alles Fake, denkt man. Bis man auf einer Reise nach Neuseeland auf ein Denkmal für den Flugpionier Richard Pearse trifft. Der vor den Brüdern Wright... Gab es ihn doch, diesen Colin McKenzie?
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