Nahaufnahme von Renate Reinsve
Renate Reinsve in »A Different Man« (2024). © Universal Pictures
Seit ihrem internationalen Durchbruch mit »Der schlimmste Mensch der Welt« ist die norwegische Schauspielerin Renate Reinsve viel beschäftigt: zwei Wettbewerbsfilme bei der Berlinale, eine große Serie und bald startet ein langjähriges Herzensprojekt
Es sind denkwürdige Momente, wenn sie durch Oslo läuft und rennt. Wenn sie sich auf eine Hochzeit von Unbekannten einschleust und beim Flirten auf dem Klo pupst in einer der sympathischsten Kennenlerngeschichten der Kinogeschichte. Renate Reinsve spielt in Joachim Triers Film »Der schlimmste Mensch der Welt« (2021) eine Frau an der Schallmauer zu ihrem 30. Geburtstag, die nicht stillstehen kann und will. Sie beginnt vieles – ein Medizin-, ein Psychologie- und ein Fotografiestudium – und bringt doch nichts zu Ende; sie will keine Kinder und ist bereit, sicher geglaubte Partnerschaften zu beenden.
Trotz oder gerade wegen all ihrer Macken ist man voll bei ihr, bei dieser Frau im Selbstfindungshamsterrad, in der sich die Unsicherheiten und Befindlichkeiten einer ganzen Generation spiegeln. Reinsve spielt sie in ihrer ersten Hauptrolle herrlich energetisch zwischen Tragik und Komik, und man meint in jeder Sekunde zu spüren, wie sehr sie selbst dieses Gefühl zwischen Selbst- und Unsicherheit kennt, dieses spätadoleszente Schwimmbecken, durch das manche pragmatisch durchkraulen und andere sich hundeschwimmend durchkämpfen. Für die norwegische Schauspielerin bedeutete »Der schlimmste Mensch der Welt« den Durchbruch auf dem internationalen Filmparkett, in Cannes wurde sie 2021 als beste Darstellerin ausgezeichnet und der Film als norwegischer Oscarbeitrag eingereicht.
Trier hat die Hauptrolle für Reinsve geschrieben und sie damit quasi zurückgeholt, denn die Schauspielerin hatte eigentlich beschlossen, das Metier zu wechseln. Kennengelernt haben die beiden sich bei den Dreharbeiten zu seinem Film »Oslo, 31. August« (2011), in dem Reinsve, wie sie bei einem Interview in Cannes erzählte, zwar nur eine Textzeile hatte, an dessen Set sie aber neun Tage verbrachte, weil die Szene speziell ausgeleuchtet werden musste. Dieser Miniauftritt im zweiten Teil von Triers »Oslo-Trilogie« war Reinsves erster Filmauftritt überhaupt.
In dem darauffolgenden Jahrzehnt legte die 1987 in dem norwegischen Dorf Solbergelva geborene Schauspielerin eine fast schon kanonische Bühnenkarriere hin und spielte in nationalen Fernseh- und Kinofilmen. Sie debütierte nach dem Schauspielstudium an der Norwegischen Nationalen Theaterakademie, die zur Kunsthochschule Oslo gehört, 2013 im Trøndelag Teater in Trondheim in Ibsens »Peer Gynt«. Für ihre Nebenrollen in »Der Besuch der alten Dame« von Friedrich Dürrenmatt und Ibsens »Wenn wir Toten erwachen« wurde sie für den Heddaprisen, einen norwegischen Theaterpreis, nominiert. Sie spielte in »Edda«, in »Antigone« und war 2016 für ihre Rolle in Rune Denstad Langlos Spielfilm »Welcome to Norway« für den norwegischen Amanda Award in der Kategorie beste weibliche Nebenrolle nominiert.
In Interviews erzählt Reinsve, sie habe eigentlich bereits mit neun Jahren mit der Schauspielerei begonnen – für sie eine therapeutische und eskapistische Maßnahme, um in einem schwierigen Umfeld erwachsen zu werden. Mit 16 Jahren flog sie von der Schule und floh Hals über Kopf nach Schottland, wo sie in einem Wohnheim in Edinburgh wohnte und in einer Bar jobbte. Zurück in der Heimat meisterte sie erfolgreich das Vorsprechen an der Schauspielschule.
Heute ist Reinsve Norwegens bekannteste Schauspielerin und international gefragt, wobei sie sich in kleineren Produktionen zu Hause zu fühlen scheint, nicht im Big-Budget-Franchise-Kino. Ihre Rollenauswahl reicht dabei von bis. So spielt sie in dem norwegischen Zombiedrama »Handling The Undead« (2024) von Thea Hvistendahl eine Mutter, deren verstorbener Sohn als Zombie zurückkehrt. Auf der diesjährigen Berlinale war sie in gleich zwei Wettbewerbsfilmen in größeren Nebenrollen zu sehen: in Aaron Schimbergs grotesker Komödie »A Different Man«, die diesen Monat in die Kinos kommt, und in Piero Messinas Science-Fiction-Drama »Another End«.
In ersterem, zugleich ihr englischsprachiges Debüt, spielt sie mit dem ihr eigenen Charme die Nachbarin eines von Sebastian Stan verkörperten New Yorker Schauspielers, dessen Gesicht von Tumoren entstellt ist. Die mit Bodyhorror-Momenten inszenierte düstere Komödie erzählt von der Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Reinsve ist am Ende eine LSD und Sex Liebende, die sich mit einem neuen Lebensgefährten für eine Sekte entscheidet.
In »Another End« ist Reinsve als temporäre Wiedergängerin der verstorbenen Frau eines von Gael García Bernal gespielten Mannes zu sehen. Im eigentlichen Leben allerdings ist sie in dem Science-Fiction-Drama, in dem das Bewusstsein von Toten in andere Körper geladen werden kann, eine nihilistisch veranlagte Prostituierte, die in einem neonbeleuchteten Club ihre Dienste anbietet. In beiden Filmen überzeugt die Norwegerin als vielschichtige Frau, an der sich die Männer abarbeiten. Internationale Serienluft schnupperte sie daneben mit ihrer Rolle in der Apple-TV+-Miniserie »Aus Mangel an Beweisen« (2024), in der sie neben Jake Gyllenhaal spielte.
Dass Reinsve im Januar des kommenden Jahres in Halfdan Ullman Tøndels »Elternabend« endlich wieder in einer Hauptrolle zu sehen sein wird, daran hat sie wesentlich mitgewirkt. »Denk daran, wie großartig das für unseren Film ist!«, schrieb sie Tøndel per SMS, unmittelbar nachdem sie den Darstellerinnenpreis in Cannes gewonnen hatte. Der Regisseur arbeitete seit 2016 an seinem Film, von dem er Reinsve schon lange überzeugt hatte, für den er aber über Jahre hinweg vom Norwegischen Filminstitut keine Produktionsförderung bekam. »Ohne sie gäbe es den Film nicht«, so Tøndel, und ohne Frage wäre »Elternabend« ohne Reinsve ein völlig anderer Film: Sie ist darin eine Wucht!
Reinsve spielt in dem Film, der nicht ganz zu Unrecht – zumindest was die erste Hälfte betrifft – mit İlker Çataks »Das Lehrerzimmer« verglichen wird, eine Schauspielerin, die in die Schule beordert wird, weil es zwischen ihrem sechsjährigen Sohn und einem Mitschüler einen Vorfall gab. Das Gespräch zwischen den beteiligten Eltern eskaliert schnell und die Fassade der Schule, die hier zur Parabel für die Gesellschaft wird, bröckelt, auch buchstäblich am Gebäude. Was ist Fakt, was Gerücht? Wer spielt hier wem etwas vor?
Der Vorverurteilung des Sohnes begegnet Reinsves Figur zwischen Sachlichkeit und Drama. Später, wenn der satirisch grundierte Film immer stärker vom Sozialrealismus ins Psychologische und Theatrale kippt, tanzt sie in einem Musicaleinschub mit dem Hausmeister durch den Schulflur. Eine Situation brennt sich nachhaltig auf die Netzhaut: diese irre Szene, in der Reinsve in Gegenwart der anderen Eltern und der Schulleitung minutenlang lacht, sich irgendwann unter Tränen schüttelt, bevor ihr Lachen in hysterisches Weinen übergeht.
Es ist eine Szene, die das Kinojahr überdauern wird. Und so unangenehm sie auch ist: Man schaut Renate Reinsve, die immer wieder mit ihrer einzigartigen Ausstrahlung und Präsenz gefangen nimmt, dennoch gern dabei zu und darf sich schon die Hände reiben: Gerade arbeitet sie mit Joachim Trier an dessen neuem Film »Sentimental Value«.
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