Das ungarische Kino: Unerfindlich und unerklärlich
»Jupiter's Moon« (2017)
Um die Meinungs- und Kunstfreiheit in Ungarn muss man sich berechtigte Sorgen machen. Dennoch hat der ungarische Autorenfilm in den letzten Jahren eine Blüte erlebt – ausgerechnet in der Ära des »Rambo«-Produzenten Andrew Vajna, der die Filmförderung umgekrempelt hat
Ein Mädchen auf einem Fahrrad im morgendlichen und menschenleeren Budapest. Ihr folgen Hunderte von Hunden: »Underdog« von Kornél Mundruczó. Ein erschossener Flüchtling schwebt über der ungarischen Hauptstadt und vermag angeblich Kranke zu heilen: »Jupiter’s Moon«, ebenfalls von Mundruczó. In einem Schlachthof kommen sich zwei Einzelgänger näher. Beide haben den gleichen Traum von einem Hirschpaar in einer idyllischen Natur: »Körper und Seele« von Ildikó Enyedi. Von Saul Ausländer sieht man nur das Gesicht, der Hintergrund verschwimmt oft in Unschärfe. Saul ist ein Mitglied der berüchtigten Sonderkommandos in Auschwitz: »Son of Saul« von László Nemes.
Die Bilder dieser so unterschiedlichen Filme brennen sich sofort in die Augen und hypnotisieren den Betrachter; sie stehen für eine wiedergefundene Genrevielfalt des ungarischen Films. Seit zwei Jahren haben ungarische Filme nicht nur den Oscar, den Goldenen Bären und Preise in Cannes abgeräumt, sondern auch wieder national und international beim Publikum gepunktet.
Formvollendet, verspielt, poetisch und schockierend kommt dabei der Gewinner des Goldenen Bären der Berlinale in diesem Jahr daher, »Körper und Seele«. Meisterhaft hat Ildikó Enyedi schon immer in ihren Filmen Naturalismus mit Fantasie und Märchenelementen verbunden. Sie begann ihre Karriere 1988 fulminant mit »Mein 20. Jahrhundert«. In Cannes gewann sie dafür die Goldene Kamera. Dennoch drehte sie seit 1999 keinen langen Spielfilm mehr.
Das lag auch daran, dass sich die ungarische Filmförderung nach dem Wahlsieg von Viktor Orbán 2010 stark veränderte. Bis dahin hatte sich die ungarische Filmbranche in einer Art Selbstverwaltung die staatlichen Fördergelder zugewiesen, ein System mit Stärken und Schwächen, das durch Kreditzusagen, die nicht eingehalten wurden, völlig verschuldet war. Dann ernannte Ministerpräsident Orbán 2011 seinen alten Freund Andrew Vajna als Regierungskommissar für die ungarische Filmwirtschaft. Der bullige, Zigarren rauchende Produzent war bereits 1956 als Zwölfjähriger aus Ungarn geflohen, er hatte in Hollywood Filme wie die Rambo-Serie oder »Red Heat« produziert, aber auch »Nixon« von Oliver Stone oder »Music Box« von Costa-Gavras. Vajna kehrte bereits nach dem Systemwechsel 1989 wieder in sein Heimatland als erfolgreicher Verleiher und Produzent zurück. Vajna, der sich mit dem künstlerischen ungarischen Autorenfilm kaum auskannte, war clever genug, sich mit einem fünfköpfigen Gremium aus der Filmbranche zu umgeben. Und er erkannte nicht zu Unrecht, dass die Schwäche des ungarischen Films an mangelhaften Drehbüchern lag. Seitdem berät das Gremium die Filmemacher und darf sogar den Final Cut in Anspruch nehmen, wenn der Film staatlich gefördert wird. Was natürlich umstritten ist.
In der Praxis kam es jedoch nur selten zu Konflikten. So loben ehemalige Kritiker wie Ildikó Enyedi oder Kornél Mundruczó heute die Zusammenarbeit mit den Förderern. Vor allem die Produzentin Ágnes Havas, die Leiterin des ungarischen Filmfonds, setzt sich konstruktiv für die Filmemacher ein, erzählt Enyedi im Gespräch im Juli 2017 in Berlin. Andrew Vajna, der Chef von Havas, überlässt seinen Spezialisten die Arbeit, schaut sich aber gern das Endprodukt an und sagt seine Meinung. Ildikó Enyedi betont, dass ihr niemand in ihren Film hereinredete, sie aber dennoch die Möglichkeit erhielt, kostenlos einen Script-Doktor in Anspruch zu nehmen. Auch die Abnahme verlief komplikationslos. Andrew Vajna sah ihren Film und meinte nur: »Das ist nicht genau mein Filmgenre und mein Geschmack, aber der Film ist sehr gut geschnitten.«
Kornél Mundruczó hat sich, seitdem das Geld neu verteilt wird, regelrecht neu erfunden. Während seine frühen Filme wie »Delta« durchaus beeindruckten, aber sehr symbolhaft überladen und damit fast unpolitisch verkünstelt waren, bietet Mundruczó seit »Underdog« Kino für die Sinne mit atemberaubenden Bildern. Immer wieder wird er nach der politischen Lage für Künstler befragt und meint: »Für mich sind in den letzten Jahren Strukturen entstanden, die ich akzeptieren kann. Ich bin ja auch Theaterregisseur. Und im Theater und der Bildenden Kunst hat sich der Staat enorm eingemischt und vieles abgeschafft. Das ist in der Filmbranche nicht der Fall. Und interessanterweise – und das mag einige irritieren – versucht Andy Vajna, einen Dialog mit den Filmemachern zu etablieren.«
Mit »Underdog« feierte Mundruczó in Ungarn seinen bisher einzigen wirklichen Publikumserfolg. »Jupiter’s Moon« dagegen provozierte. Zwischen Thriller, magischem Realismus und Flüchtlingsdrama wechselnd, drehte Mundruczó erneut ein furioses Großstadtmärchen. Ein syrischer Flüchtling, von einem kaputten ungarischen Cop (gespielt von der Schauspiellegende György Cserhalmi) erschossen, ersteht wundersam wieder auf und fliegt davon. Ein unter Schuldgefühlen leidender jüdischer Arzt (Merab Ninidze) versucht, mit diesem Wunderknaben Geschäfte zu machen, ihn aber auch vor der ausländerfeindlichen Polizei zu schützen. Diese böse, wenn auch überladene Parabel auf das heutige Ungarn im Propagandamodus der Abschottung verliert leider in der zweiten Stunde etwas den Fokus. Der Film floppte in Ungarn. Erfolge an der Kinokasse sind also weiterhin Glücksfälle.
Und so war es vor allem der international größte Erfolg des ungarischen Kinos seit 1980, der die Ungarn wieder zahlreich ins Kino trieb. Als László Nemes für sein eigenwilliges und formstarkes Auschwitz-Drama »Son of Saul« zum zweiten Mal nach Mephisto von István Szabó den sogenannten Auslandsoscar gewann, jubelte auch die ungarische Boulevardpresse und feierte den Regisseur wie einen Olympiasieger. Der Film selbst erreichte nach dem Oscar insgesamt 267 000 Kinobesucher. Der in den USA lebende Hauptdarsteller Géza Röhrig, der einst in Budapest an der Filmhochschule als Regisseur ausgebildet wurde, sah jedoch die vielen Glückwünsche vor allem von Regierungschef Viktor Orbán zwiespältig und erklärte in einem Interview in Berlin Ende Januar 2017 noch: »Er gratulierte über Facebook. Es wäre besser gewesen, hätte er nicht nur gratuliert, sondern dem Land auch mitgeteilt, ob er den Film gesehen hat.«
Politiker aller Couleur sonnen sich gerne im Erfolg, und Viktor Orbán und seine Minister von der nationalkonservativen Fidesz-Partei sind da keine Ausnahme. Die schlimmsten Befürchtungen, es würde nur noch teure, nationalistische Prestigefilme geben, haben sich glücklicherweise nicht bestätigt. Aber man jongliert plötzlich auch mit großen Budgets wie drei Milliarden Forint (etwa zehn Millionen Euro) für den bisher teuersten ungarischen Film aller Zeiten »Kincsem/Bet On Revenge«. Der Film um ein legendäres Rennpferd, das über 40 Rennen gewann, beginnt in der K.-u.-k.-Zeit nach der niedergeschlagenen Revolution 1848 und ist ebenso eine Rachegeschichte wie ein Liebesfilm oder ein Renndrama. Erfolgsregisseur Gábor Herendi hat einen mit viel Special Effects aufgemotzten, ziemlich unterhaltsamen Kostümfilm gedreht, der mit einigen netten Anachronismen aufwartet. Der Film lockte 400 000 Zuschauer in die Kinos und liegt nach »Ich - einfach unverbesserlich 3« und »Fluch der Karibik« derzeit auf Platz drei der Jahres-Top-Ten.
Und so tummeln sich im ungarischen Kino plötzlich wieder Altmeister – Márta Mészáros hat mit 86 Jahren einen Film abgedreht – zusammen mit etablierten Regisseurinnen, ehemaligen Werbefilmern und ganz jungen Filmemachern wie Gábor Reisz. Sein Erstling »Aus unerfindlichen Gründen« ist so etwas wie eine Bestandsaufnahme der jungen Generation der Mittzwanziger, die nicht so recht weiß wohin. Der Film lief wie »Underdog« oder »Son of Saul« auch kurz in den deutschen Kinos. Man sollte ihn auf DVD nachholen. Wörtlich übersetzt heißt »Van valami furcsa és megmagyarázhatatlan« übrigens: Da ist etwas unerfindlich und unerklärlich.
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