Kritik zu Aus unerfindlichen Gründen
Postsozialistischer Nerd, verträumter Totalverweigerer: Gábor Reisz erzählt in seinem Debütfilm einfallsreich von einem verkannten Künstler im modernen Budapest
Sterben ist nichts für Anfänger. Aber ein Anfänger ist Áron wirklich nicht, denn er fällt permanent um. Beim Spazierengehen am Fluss, in der U-Bahn und sogar mitten auf einer befahrenen Straße. Niemand nimmt Notiz von seinen gefühlten Tausend Toden, und genau das entspricht seinem Lebensgefühl. Der 29-Jährige hat Filmgeschichte studiert, noch nie gearbeitet und wird von seinen Eltern finanziert. Die Freundin, mit der er zusammenwohnte, hat ihn verlassen. Dabei hat sie, was Aron am meisten wurmt, nicht einmal ihre Schamhaare im Abfluss zurückgelassen.
Kein Zweifel: Dieses Muttersöhnchen ist ein schrulliger Typ. Ein Loser, wie er im Buche steht. Aber einer, den man so noch nicht gesehen hat. In die Gefühls- und Gedankenwelt dieses jungen Mannes taucht Gábor Reisz überaus fantasievoll ein. Seine melancholische Komödie ist im Cinema-verité-Stil gedreht. Die Handkamera erzeugt eine intime, dokumentarische Nähe zu seinem Protagonisten, die jedoch immer wieder aufgebrochen wird durch hinreißend komische traumartige Sequenzen. Zu Beginn etwa bekommt Áron von seiner Mutter angewiesen, er möge sich beeilen. Als Reaktion auf diese Anforderung sieht er Passanten auf der Straße, die sprinten, um den Bus noch zu erreichen. Aus Arons Sicht rennen sie jedoch in Zeitlupe – und pfeifen dabei auch noch die fröhlich Titelmusik des Films mit.
Solche szenischen Erfindungen sind keine manieristische Stilübung. Gábor Reisz verbildlicht die Sichtweise eines Menschen auf eine Welt, die sich ohne ihn dreht. Von den »unerfindlichen Gründen« für diese lähmende Agonie erzählt das Sittenbild über das moderne Ungarn mit selten gesehener Verve. So soll Áron Blumen zum Namenstag seiner Schwägerin in spe mitbringen, kauft aber nur einen Minikaktus. Als sein leisetretender Vater nebenbei fragt, ob er sich an diesem »Geschenk« beteiligen könne, erschließt sich nebenbei ein ganzes psychologisches Koordinatensystem. Entsprechend vergnügt folgt man der mäandernden Geschichte. Áron wird beim Schwarzfahren erwischt, was für ihn eher ein Grund zur Freude ist: Er hat sich in die Kontrolleurin verliebt, die auf den eigentümlichen Namen Eva Tinte hört. Dass er im Suff versehentlich ein Flugticket nach Lissabon bucht, macht seine Situation nicht einfacher.
Áron Ferenczik, Freund, Studienkollege und Hauptinspirationsquelle des Regisseurs, verkörpert diesen postsozialistischen Nerd mit schlafwandlerischer Souveränität. Der Film lebt von der Figur des skurrilen Eigenbrötlers und verkannten Künstlers. Áron kann nicht arbeiten, weil er sogar beim Spüljob im Restaurant immer wieder innehält, um die schönen Muster auf den schmutzigen Tellern anzustarren. Die einzige »Produktivität« dieses träumenden Totalverweigerers: sprechen. Er redet viel, schnell und vor allem dann, wenn es unangebracht ist. Eine überbordende Fülle solcher schrägen Beobachtungen fügt Gábor Reisz in seinem kurzweiligen Debüt zu einem harmonischen Ganzen: einem genialen Budapest-Blues, der Szene für Szene verblüfft, und das nicht aus unerfindlichen Gründen.
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