Kritik zu 72 Stunden
Ein unbescholtener Bürger entwickelt ungeahnte kriminelle Energie, um seine Frau aus dem Gefängnis zu befreien. Unter Regisseur Paul Haggis (»L.A. Crash«) tritt Russell Crowe bei diesem Remake eines französischen Thrillers an die Stelle von Vincent Lindon
Die Story ist ungewöhnlich, die Besetzung hervorragend, die Bilder sind stark – umso mehr wundert man sich. Zum Beispiel darüber, wie ein preisgekrönter Drehbuchautor so nonchalant jede Menge Ungereimtheiten und absurde Zufälle zusammenbastelt. Oder darüber, dass man schon bald in gepflegter Langeweile auf das Ende wartet, ohne wirklich wissen zu wollen, wie es aussieht.
Regisseur und Autor Paul Haggis hat immerhin zwei Oscars für seine Drehbücher zu Eastwoods »Million Dollar Baby« und seinem eigenen »L.A. Crash« bekommen. Bereits Letzterer trug schwer an all den Botschaften, die er transportieren sollte. »72 Stunden«, ein Remake des französischen Films »Pour Elle«, leidet vor allem an der Vielzahl von Aspekten, die Haggis in seinem Thrillerplot beleuchten will, der für sich genommen spannend ausfallen könnte: Russell Crowe spielt den Englischlehrer John Brennan, dessen heiles Familienleben mit Frau Lara (Elizabeth Banks) und Sohn Luke jäh zerbricht, als Lara wegen Mordverdachts festgenommen wird. Zahlreiche Indizien sprechen gegen sie, und als nach drei Jahren alle juristischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, bleibt ihr keine Hoffnung auf Freiheit mehr. Doch John, von ihrer Unschuld überzeugt, entwickelt aus der Verzweiflung heraus den Entschluss, die Sache noch anders anzugehen – er plant den großen Coup, sie aus dem Gefängnis zu holen.
Die kriminelle Energie, die er dabei entwickelt, ist immens. Um alles niet- und nagelfest vorzubereiten, inklusive falscher Pässe für die Ausreise, begibt er sich tief in den Sumpf der Unterwelt. Dabei geht er dann sogar über Leichen und scheint auch keine Bedenken mehr zu haben, nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch das seiner Frau und seines Sohnes bei der Befreiung aufs Spiel zu setzen. Hatte dieser Charakter etwa von Anfang an etwas Pathologisches? Warum versucht er statt dieser drastischen Maßnahmen nicht, den Mordfall aufzuklären? Wie einfach es wäre, seine Frau zu entlasten, zeigt nämlich das Ende des Films. Ohne hier zu viel verraten zu wollen: Die Schlichtheit der Auflösung ist lachhaft.
Freilich ist der kriminell agierende Professor als Filmfigur origineller als ein kriminalistisch forschender. Und ein paar in sich spannende Szenen gebiert die Konstruktion durchaus, doch da neben der Thrillerhandlung auch das Charakter- und Familiendrama Bedeutung haben sollen, zerstört sich der Film selbst. Ganz abgesehen von vielen Merkwürdigkeiten, die von Anfang an irritieren: Warum scheint sich etwa Lara kaum über den handtellergroßen Blutfleck auf ihrem Mantel zu wundern, sondern wäscht ihn so gleichgültig aus, als wäre es ein Möwenschiss? Sollen wir an ihrer Unschuld zweifeln?
»Du willst es zu sehr, du wirst es vermasseln!«, sagt Liam Neeson als Exknacki und Ausbrecherkönig zu Russell Crowe. Auch der Film legt leider allzu viel Gewicht auf zu viele disparate Elemente, die die Geschichte nicht tragen. Und der Kleister musikalischer Dauerberieselung kann die guten handwerklichen Einzelleistungen auch nicht mehr zusammenfügen. Schade, denn dass er kraftvoll erzählen kann, wenn er geradlinig erzählt, hat Paul Haggis bereits bewiesen.
Kommentare
Zur Kritik hier oben von Patrick Seyboth von 01.01.2011
Jetzt mal unabhängig davon, dass der Kritiker Seyboth unsauber zitiert, egal ob man mit dem Original mit deutschen Untertiteln oder mit der deutschen Fassung vergleicht: Das Zitat kommt nicht, wie von ihm behauptet, von Liam Neeson, sondern von dem Motorradfahrer, als Pässe und Geld getauscht werden.
Seyboth mag sich stellenweise gewählt ausdrücken, bewertet den Film meiner Meinung nach jedoch viel zu schlecht. Bis auf die Szene mit der Entdeckung des Blutflecks, die auch aus meiner Sicht suboptimal in Szene gesetzt wird, finde ich alles, was Seyboth an dem Film ansonsten noch auszusetzen hat, hervorragend gelöst. Es ist beispielsweise immer ein schmaler Grat, eine Geschichte möglichst geradlinig erzählen zu wollen und auf der anderen Seite den Protagonisten genug Tiefe zu geben, wodurch man den Zuschauer emotional abholt, so dass er sich erst richtig mit den Figuren mitfühlen und sich identifizieren kann. Das war ja auch einer der Hauptgründe für das Remake, die Charaktere mehr auszuleuchten und die Geschichte noch facettenreicher zu erzählen.
Schade, dass Seyboth das nicht sehen und honorieren wollte.
Kritik von Seyboth
Oberflächlich betrachtet ist die Kritik okay, der Film ist aber tiefergehend. Ob es Detail-Schwächen gibt, mag dahingestellt sein. Entscheidend ist, dass das Justizsystem und die Polizei versagt und jemand der unschuldig ist, ins Gefängnis kommt..und in der Schlusssequenz, wo man den im Schlamm steckenden Knopf dann seitens Polizei doch nicht gefunden hat (Der Zuschauer weiß längst dass die Hauptdarstellerin unschuldig ist) bleibt die Gewissheit, dass die Familie sich nur noch in Ländern aufhalten darf, wo kein Auslieferungs-Abkommen mit den USA besteht… hier wird eine ganze Familie durch das System völlig zerrüttet, auch in Bezug auf die Eltern… Auch wenn die Beziehung Vater Sohn nicht die beste ist, steht der Vater zu ihm. Auch lässt sich Russell Crowe nicht von der schönen Nachbarin aus der Ruhe bringen, um es mal sozusagen…
Dem System hätte eigentlich auffallen müssen, dass die Hauptdarstellerin vom Profil her eigentlich nicht die Täterin sein kann.. insofern ist verständlich, dass der liebende Ehemann, auch wenn er viel dazu lernen muss, alle Mittel ergreift, um der Ungerechtigkeit entgegenzuwirken.. Für die bislang intakte heile Familie geht es quasi um alles!! Denn in den USA gäbe es kein normales Leben, kein gerechtes Leben mehr, so lebt man (notgedrungen) aber wieder zusammen im Ausland..
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