Nahaufnahme von Colman Domingo
Colman Domingo in »Sing Sing« (2023). © Divine Film, LLC
Die Karriere von Colman Domingo hat noch einmal Fahrt aufgenommen: mit großen wie ambitionierten Produktionen, die seine vielseitigen Talente zur Geltung bringen
Im Alter von 55 Jahren mag der eine oder andere langsam beginnen, die verbleibenden Jahre bis zur Rente zu zählen. Doch manche laufen da gerade erst so richtig zur Hochform auf. So wie Colman Domingo. »Das war ein ziemlich unglaubliches Jahr«, bestätigt der Schauspieler beim Interviewtermin via Videoplattform. Der Blick zurück auf das Jahr, in dem er neben seinem Schnapszahlgeburtstag auch etliche bemerkenswerte Erfolge feierte, zeichnet ihm ein breites Grinsen ins Gesicht. »Plötzlich habe ich einen Lauf – und aktuell nicht vor, irgendwie langsamer zu werden!«
30 Jahre ist es her, dass Domingo erstmals vor der Kamera stand, für einen Film namens »Timepiece«, der statt auf der Leinwand gleich in den Videotheken startete. Damals hatte der Sohn einer Hausfrau und Bankangestellten sowie eines aus Belize stammenden Vaters, der die Familie noch in seiner Kindheit verließ, bereits in seiner Heimatstadt Philadelphia ein Bachelor-Studium im Fach Journalismus absolviert und sich anschließend nach San Francisco aufgemacht.
In der dortigen Theaterszene wurde aus der Begeisterung für die Schauspielerei ein Beruf, doch große Sprünge waren zunächst nicht zu machen. Neben regelmäßigen Auftritten auf kalifornischen Bühnen und kleinen Rollen in Film- und TV-Produktionen (darunter Clint Eastwoods »True Crime« oder die Serie »Nash Bridges«) mussten Barkeeper- und andere Nebenjobs für die Miete sorgen. Auch nach einem Umzug nach New York stand Domingo noch hinterm Tresen, doch dafür überzeugte er beim Casting Regisseur*innen wie Steven Spielberg (»Lincoln«), Spike Lee (»Red Hook Summer«) oder Ava DuVernay (»Selma«). Und am Broadway wusste man zusehends auch seine musikalischen Talente zu schätzen, was zu Engagements im Rockmusical »Passing Strange« und in »Chicago« sowie zu einer Tony-Nominierung für »The Scottsboro Boys« führte.
Zu einem echten Star wurde Domingo allerdings erst 2024. Für »Rustin«, seine erste große Spielfilmhauptrolle, erhielt er seine erste Oscarnominierung. Auch bei fast allen anderen wichtigen Filmpreisen, vom BAFTA über den SAG Award bis zu den Golden Globes, wurde seine Darstellung des in den Geschichtsbüchern meist übersehenen schwulen Bürgerrechtsaktivisten und Martin-Luther-King-Wegbegleiters Bayard Rustin mit Nominierungen bedacht. Eine weitere SAG-Nominierung gab es als Ensemble-Mitglied der Musicalverfilmung »Die Farbe Lila«, in Ethan Coens »Drive-Away Dolls« hatte er einen wunderbar komischen Gastauftritt, und als Protagonist machte er schließlich im Alleingang die durchwachsene Thrillerserie »The Madness« sehenswert, die zuletzt ein paar Wochen lang zu den meistgesehenen Netflix-Produktionen gehörte.
Dass er heute solche Erfolge feiern kann, verdankt der Schauspieler nicht zuletzt einer vor rund zehn Jahren getroffenen Entscheidung, wie er im Gespräch berichtet. »Nach ›Passing Strange‹ und ›The Scottsboro Boys‹ am Broadway hatte ich damals eigentlich das Gefühl, den Höhepunkt meiner Karriere erreicht zu haben. Die Arbeit an beiden Stücken war unglaublich befriedigend, aber mehr schien nicht möglich zu sein. Mein Alltag bestand danach wieder aus ständigen, oft erfolglosen Castings, und ich begann mich zu fragen, warum ich eigentlich immer noch in diesem Hamsterrad steckte.« Der Entschluss, Management und Agentur zu wechseln, erwies sich als Gold wert: »Dank des neuen Teams bekam ich eine Rolle in »Fear the Walking Dead« – und die veränderte alles. Plötzlich entdeckte ich die Fernseh- und Serienwelt für mich und erlebte, was es bedeuten kann, eine Rolle über die Zeit mitzugestalten und letztlich acht Staffeln lang weiterzuentwickeln. Diese Erfahrung hat ganz neue kreative Kräfte in mir geweckt.«
Die konstant guten Quoten des Zombie-Spin-offs bescherten Domingo eine bis dato nicht dagewesene Sichtbarkeit, in deren Folge seine Karriere mit Rollen etwa in »Euphoria« (wofür er einen Emmy erhielt), Barry Jenkins' »Beale Street«, »Ma Rainey's Black Bottom« oder dem Remake von »Candyman« von Jahr zu Jahr mehr Fahrt aufnahm. Und mit jeder dieser Produktionen konnte er seine vielseitigen Talente nachdrücklicher unter Beweis stellen. Denn so sehr er auf der Bühne oft singend und tanzend den Entertainer gegeben hat und im Gespräch mit der samtweich-tiefen Stimme und dem herzhaften Lachen wie geballter Charme auf zwei Beinen wirkt, so sehr versteht er sich eben in der Arbeit auch auf das Zwielichtige, Abgründige und Bitterböse. Und war früher trotzdem in der von Rosie O'Donnell produzierten »Big Gay Sketch Show«, deren Name von 2007 an drei Jahre lang Programm war, keinen Deut weniger überzeugend.
Die einengende Schublade, vor der nicht wenige queere Schauspieler*innen Angst haben, hat Domingo nie gefürchtet. Schon seit den Anfangstagen in San Francisco hat der Schauspieler aus seiner sexuellen Identität kein Geheimnis gemacht; inzwischen ist er seit 20 Jahren mit seinem Partner Raúl liiert und seit 2014 verheiratet. Auch mit steigender Prominenz gereicht ihm so viel Offenheit nie zum beruflichen Nachteil. Tatsächlich ist »Rustin« als schwule Rolle eher eine Ausnahme in seinem Portfolio, und weder Hollywood noch das Publikum scheinen ein Problem damit zu haben, ihm in »The Madness«, »Beale Street« oder »Die Farbe Lila« in unterschiedlichsten Konstellationen den heterosexuellen Familienvater abzunehmen.
In »Sing Sing« spielt Domingo nun abermals eine reale Figur mit Familienanhang, wobei Letzteres eine untergeordnete Rolle spielt. Denn der von ihm gespielte John »Divine G« Whitfield (der aktiv in die Entstehung des von Greg Kwedar inszenierten Films involviert war) sitzt im Gefängnis und ist dort im Rahmen des Programms »Rehabilitation Through the Arts« an einer Inszenierung von Shakespeares »Sommernachtstraum« beteiligt. Auch mit diesem berührenden Drama, das von Strafvollzug, Wiedergutmachung und der Kraft der Schauspielerei erzählt, ist der 55-Jährige wieder mittendrin in der Award-Season.
Doch der Stolz, mit dem Domingo über dieses Projekt spricht, rührt eher daher, dass ihn die Situation inhaftierter Schwarzer Männer umtreibt. Dass er in »Sing Sing« größtenteils mit Absolventen eben jenes Rehabilitationsprogrammes vor der Kamera stand, macht den Film, der noch durch eine Gemeinschaftsfinanzierung gestemmt wurde, bei der jedes Teammitglied zum Anteilseigner wurde, umso außergewöhnlicher. Mit der nach seiner Mutter benannten eigenen Firma Edith Productions, die er gemeinsam mit Ehemann Raúl betreibt, gehört Domingo auch zu den Produzenten des Films.
Auch für die Sci-Fi-Horrorkomödie »It's What's Inside«, die beim Sundance Film Festival 2024 für eine Rekordsumme an Netflix verkauft wurde, zeichnen die beiden mitverantwortlich. Eigene Projekte auf die Beine stellen und selbst Geschichten erzählen, darauf richtet Domingo verstärkt seinen Fokus, nachdem er schon früher eigene Theaterstücke sowie den Broadway-Erfolg »Summer. The Donna Summer Musical« geschrieben und Episoden von »Fear the Walking Dead« inszeniert hatte. Demnächst will er die Regie bei einem selbst verfassten Biopic über Nat King Cole übernehmen, doch 2025 ist er erst einmal als Michael Jacksons Vater in »Michael« sowie neben Tina Fey und Steve Carrell in der Miniserie »The Four Seasons« zu sehen, während die Dreharbeiten zu Edgar Wrights Stephen-King-Adaption »The Running Man« bereits begonnen haben und Steven Spielberg für seinen neuen Film auch wieder mit ihm arbeiten will. Für Gedanken an den Ruhestand bleiben Colman Domingo also wahrlich keine Zeit.
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