Interview: Thomas Vinterberg über »Families Like Ours«
Albert Rudbeck, Thomas Vinterberg, Amaryllis August am Set von »Families Like Ours – Nur mit Euch« (Miniserie, 2024). © Per Arnesen
Herr Vinterberg, war es ein bestimmtes Ereignis, das Sie zu Ihrer ersten Fernsehserie inspiriert hat?
Kein bestimmtes Ereignis, aber eine bestimmte Situation, würde ich sagen. Vor sieben Jahren war ich für einige Monate in Paris, um dort zu arbeiten. Paris wimmelt nur so von Ausländern. Darauf reagiert die Stadt, indem sie diese nicht länger willkommen heißt. Ich war einer dieser Ausländer, ich wurde nicht wirklich willkommen geheißen. Auch nachdem ich dasselbe Café zwei Monate lang besucht hatte, wussten sie nicht, wer ich bin und wollten es gar nicht wissen – sie hatten kein Interesse daran. Es war ein Sonntag und ich vermisste meine Familie sehr. Daraus entsprang dieses Gedankenexperiment: was wäre, wenn wir sie würden? Was, wenn wir alles verlieren würden, das wir lieben, alles, das wir als selbstverständlich ansehen? Was würde dann passieren? Was, wenn die Situation, die wir gegenwärtig haben, von Dauer wäre? Als ich anderen von dieser Idee erzählte, wurde mir entgegnet, das sei doch weit hergeholt und wenig glaubwürdig. Aber diese Idee hatte sich in meinem Kopf festgesetzt. Das passiert ja manchmal, dass Du von etwas nicht mehr loskommst und das nach Deiner Aufmerksamkeit verlangt. In diesen Jahren hat sich die Welt verändert, mit der Pandemie, dem Krieg in der Ukraine – und viel Wasser in Europa. Was als Gedankenexperiment aus angemessener Entfernung begann, fühlte sich plötzlich sehr gegenwärtig an.
Gegen Ende sieht man einmal in einer Einstellung von hoch oben eine Stadt, die vom Wasser überflutet ist. Diese Verknappung hat mir gut gefallen, denn bei einem Werk mit dieser Thematik könnte man erwarten, dass es viel mehr Katastrophenszenen gibt. Stand das nie als Wunsch von Produktionsseite im Raum? Wurde von Anfang an akzeptiert, dass die Familie im Mittelpunkt stehen wird?
Es wurde akzeptiert, nichtsdestotrotz hatten wir eine fortwährende Debatte, wie dieses Wasser am stärksten wirkt: in unseren Köpfen oder im Bild? In Dänemark haben wir die Redensart, wenn man den Namen des Trolls nennt, dann verschwindet er oder wird zumindest geschwächt. Das Wasser sollte immer in ihren Träumen und in ihren Gesprächen präsent sein, aber eben nicht im Bild. Das hat auch mit dem Prinzip Hoffnung zu tun.
Da Sie gerade von Hoffnung sprechen: es gibt eine Figur, deren Namen wir nicht verraten wollen, bei der man zu einem bestimmten Zeitpunkt annehmen muss, sie würde am Ende der Geschichte nicht mehr am Leben sein – zumindest war das mein Eindruck. Auch andere Ihrer Protagonisten erleben Tragisches, doch am Ende steht Hoffnung. Hat sich das erst während der Arbeit ergeben, vielleicht auch erst im Schnitt oder war das vornherein ein Prinzip? Die Dreharbeiten zogen sich ja, mit Unterbrechungen, über ein ganzes Jahr hin, das ist doch ein Unterschied zu einem Spielfilm, wo wenig Zeit für grundsätzliche Änderungen bleibt.
Diese Änderung hat sich – sehr drastisch – vor vier Jahren ergeben. Damals befand ich mich persönlich in einer sehr dunklen Periode meines Lebens. Meine Frau las die Inhaltsbeschreibung, hatte Tränen in den Augen und meinte, ich litte an einer Depression. Das war nicht der Fall, es war nur eine tiefe Trauer. Sie schlug vor, ich solle in die Geschichte ein wenig Hoffnung hineinlassen – genauso wie in mein Leben. Das war für mich seitdem die wesentliche Herausforderung, gleichzeitig auch das, was mich am meisten nervös gemacht hat: habe ich genügend Hoffnung in die Erzählung hineingebracht? Das ist kein Schalter, den man einfach umlegen kann wie ein erzählerisches Werkzeug. Ich habe das gelöst, indem ich, zusammen mit meinem Ko-Autor, die Reise der Protagonisten verlängert habe, damit man sie besser kennenlernen kann. Insbesondere die Reise der Mutter der Protagonistin und die Wiedervereinigung der beiden hat sich daraus ergeben. Ich denke, als menschliche Wesen haben wir eine große Kraft wieder hochzukommen. Das haben wir im Verlauf der Geschichte der Menschheit erlebt, dass wir vieles bewältigen können. Das sollte uns Hoffnung geben, das wollte ich zeigen. Ich hoffe, das ist mir gelungen, auch wenn das Ende recht düster ist. Es dürfte auch Ängste beim Zuschauer auslösen, was noch nicht der Fall war, als ich vor sieben Jahren anfing. Die Welt hat sich in der Zwischenzeit verändert, daraus erwächst die Resonanz, die dieses Werk jetzt von Seiten der Zuschauer erfährt. Sollte ich mich bei den Zuschauern entschuldigen, weil ich ihnen Angst eingejagt habe?
Wurde die Serie nach ihrer Premiere auf verschiedenen Filmfestivals in Dänemark bereits im Fernsehen ausgestrahlt?
Ja, mit großem Erfolg und überwiegend guten Kritiken.
Haben sich auch Politiker dazu geäußert? Gab es Statements, die sagten: »Dänemark wird nicht im Wasser versinken?«
Ich denke, sie wissen, dass ich weiß, dass Dänemark nicht im Wasser versinken wird – dies ist ein Gedankenexperiment. Aber es gab doch ein beredtes Schweigen von Seiten der Politiker.
Es ist mittlerweile ein Vierteljahrhundert her, dass die »Dogma«-Filmbewegung entstand, vor 28 Jahren kam Ihr Film »Das Fest« heraus. Was ist davon geblieben? Hat das noch einen Einfluss auf Ihre heutige Arbeit?
»Das Fest« zu machen, war eine Explosion des Lebens, könnte man sagen. Es war ein höchst kreativer Moment, der einen großen Erfolg hatte, aber auch zu einigen schwierigen Jahren führte. Das hängt in meinem Verständnis damit zusammen, dass ich als Regisseur mit Formen experimentierte, was mir eine bestimmte Energie verlieh – genauso wie Lars von Trier, auch ein bisschen wie Kubrick, der damals starb. Ich habe mittlerweile gelernt, dass meine Leidenschaft von anderswo herkommt – von menschlichen Lebewesen, dem Element des Zusammenseins, der Auseinandersetzung zwischen Individuum und Gemeinschaft, aus dem Skandal, aus dem Elefanten im Raum, daraus, worüber die Menschen nicht sprechen wollen – und nicht aus Experimenten mit der Form. Das hat mich Dogma gelehrt, auf die harte Art. (lacht). Auf Dogma bin ich stolz, weil es viele andere Filmemacher inspiriert hat, auf eine geradezu fantastische Art und Weise. Es hat dem Filmemachen einen Spiegel vorgehalten: Du kannst es auch so machen, Du kannst es auf ganz viele Arten machen.
Ich vermute, der Academy Award für »Der Rausch« als bester nicht-englischsprachiger Film führte zu verstärkten Angeboten aus Hollywood, obwohl Sie ja schon drei Filme in Englisch gedreht hatten. Fühlte sich die Erfahrung der siebenstündigen Serie jetzt mehr nach den englischsprachigen Filmen an oder aber wie eine Erweiterung der Filme, die Sie in Dänemark gemacht haben?
Da habe ich von Ingmar Bergman gelernt, der mir beigebracht hat, mein nächstes Projekt schon geplant zu haben, bevor der letzte Film Premiere hat. Denn, so sagte er, zwei Dinge können bei einer Premiere passieren: der Film wird ein Misserfolg, was Dich paralysiert; noch schlimmer: Du hast einen Erfolg und bist komplett paralysiert. »Familien wie unsere« war bereits in Arbeit, bevor »Der Rausch« so ein Erfolg wurde. Diese Serie zu machen, fühlte sich richtig an, zudem hatte ich Gründe, jetzt in Dänemark zu bleiben, ich wollte meiner Familie nahe sein. Außerdem habe ich in all den Jahren auch gelernt, dass gerade das Spezifische Geschichten universell macht. Ich bin dänisch, gerade für ein Gedankenexperiment wie dieses benötigte ich das Spezifische, das Glaubwürdige. Die einzige Möglichkeit, das zu erreichen, war nicht nur, es dänisch zu machen, sondern auch von dem kleinen Kreis von Menschen zu erzählen, die ich hier um mich herum habe in den wohlsituierten Vorstädten von Kopenhagen.
Demnach haben Sie Ihr nächstes Projekt schon im Kopf? Wird es ein englischsprachiges sein?
Glücklicherweise ist es noch nicht entschieden. Das ist das erste Mal seit vielen Jahren, dass ich von dieser Regel abgewichen bin. Ich arbeite an mehreren Stoffen, am weitesten gediehen ist eine Fernsehserie nach dem Roman »Die Gebrüder Löwenherz« von Astrid Lindgren, gedreht in Englisch.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns